Ehrenhüter
sich in seinen Wagen und schloss die Augen, während er versuchte, die nächsten Schritte zu denken. Wenige Minuten später war er eingenickt.
Das Klingeln seines Handys weckte Frank Steenhoff wenig später. Er hatte das Gefühl, tief und lange geschlafen zu haben, doch ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es keine zehn Minuten gewesen waren.
Petersen war dran und berichtete von ihrem Gespräch mit Saliha. «Frag Osman und Murat, wann genau sie sich an dem Montagabend getrennt haben und ob es Zeugen dafür gibt», bat sie ihn. «Dieselbe Frage solltet ihr auch nochmal Kemal Cetin stellen. Vielleicht verstricken sie sich in Widersprüche.»
Erstaunt hörte Steenhoff, dass Saliha offenbar Vertrauen zu Petersen gefasst hatte.
«Sie hält es für möglich, dass ihre Brüder und ihr Vater Nilgün auf dem Gewissen haben.»
«Aber waren sie nicht am nächsten Morgen vor der Schule, um das Mädchen abzufangen?»
«Das haben sie auch behauptet. Aber noch haben wir keine Zeugen dafür.»
«Und selbst wenn wir Zeugen fänden, würde das auch nichts beweisen», gab Steenhoff zu bedenken. «Es wäre das perfekte Alibi, um zu vertuschen, dass sie Nilgün bereits am Montagabend getötet haben.»
«Ihr Alibi wäre allerdings noch besser, wenn sie Nilgüns Verschwinden offiziell gemeldet hätten», warf Petersen ein.
«Aber dann wäre Nilgüns Name öffentlich geworden und ihre verdammte Familienehre in Gefahr geraten.»
«Früher oder später wäre Nilgüns Fehlen ja doch aufgefallen», warf Navideh ein. «Ihre Lehrer hätten Alarm geschlagen oder Roman. Angenommen, die Familie steckt tatsächlich hinter dem Tötungsdelikt, hätte sie sehr irrational gehandelt.»
«Die meisten Mordfälle passieren aus einem Impuls heraus, einem plötzlichen Wutanfall oder im Rausch», antwortete Steenhoff. «In all den Jahren beim 1. K. kannte ich nur zwei Täter, die eiskalt Schritt für Schritt planten und rational vorgingen. Und ist ein verletztes Ehrgefühl nicht ein starker Antrieb, Dinge zu tun, die man sonst nie tun würde? Also irrational zu handeln?»
«Trotzdem, irgendwie passt es nicht», erwiderte Navideh matt. Ihre Stimme klang müde.
Sie vereinbarten, sich am frühen Nachmittag wieder im Präsidium zu treffen.
Als Steenhoff wenig später in die Schifftstraße einbog, erkannte er den grünen Audi schon von weitem. Wessel saß hinterm Steuer und las in einer Sportzeitschrift. Als Steenhoff an die Scheibe klopfte, schrak er zusammen. Dann ließ er die Scheibe hinunter.
«Lass uns noch ein paar Schritte gehen, bevor wir uns Osman und Murat vorknöpfen», schlug Steenhoff vor. Wessel war sofort einverstanden.
Auf dem Rasen zwischen den Mehrfamilienhäusern spielten viele Kinder unterschiedlichsten Alters. Ein paar Mädchen versuchten, eine Freundin zu fangen, die geschickt zwischen den niedrigen Büschen Haken schlug. Zwei andere liefen auf Stelzen, kippten aber immer wieder um. Eine Gruppe Jungs hatte sich ein provisorisches Tor gebaut und brüllte sich gegenseitig Befehle zu, auf die keiner der Mitspieler zu achten schien. Am Spielfeldrand lagen mehrere Roller und Kinderräder. Niemand machte sich die Mühe, die Räder abzuschließen.
Steenhoff erinnerte die Szene an seine eigene Kindheit in Bremen. In jedem Haus hatten damals Spielkameraden gewohnt. Er selbst besuchte nie einen Kindergarten und verbrachte die Jahre vor der Schule gemeinsam mit einer Horde Gleichaltriger auf der Straße und einem verwilderten Grundstück, auf dem im Zweiten Weltkrieg eine Bombe detoniert war. Sie spielten immer draußen, den ganzen Tag, bei jedem Wetter. Was sollten sie auch drinnen, in den engen kleinen Kinderzimmern?
«Das ist hier fast wie früher», griff Wessel unbewusst Steenhoffs Gedanken auf.
Steenhoff betrachtete die Kinder. Ihr Lachen und ihre lauten Rufe schienen nie zu verstummen. Der Kinderlärm gehörte zu den mehrstöckigen Häusern mit den kleinen Wohnungen wie die Satellitenschüsseln über den Balkonen.
Sie umrundeten in einem großen Halbkreis das Haus der Cetins, dann hatten sie sich einen Plan zurechtgelegt, wie sie bei der Befragung vorgehen wollten.
Wessel hatte vorgeschlagen, als Erstes Murat beiseitezunehmen. Der älteste Sohn der Familie schien ihm von den drei Männern der Familie der zugänglichste zu sein. «Wenn einer redet, dann er», sagte Wessel überzeugt, auch wenn er an dem Morgen nicht viel Neues über Nilgün erfahren hatte. «Ihre beiden engsten Freundinnen wussten zwar, dass sie sich
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