Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)
nickte und warf einen Blick auf das Schwarz-Weiß-Porträt, welches
auf einer Staffelei rechts neben dem Eichenholzsarg stand. Blumen hatte sich Tante
Lu verbeten, und so blieb es bei den vier Kandelabern, welche den fahnengeschmückten
Sarg flankierten. Alles wirkte schlicht, bescheiden und dezent, genau so, wie es
sich das Pendant von Adele Sandrock [27] gewünscht hatte.
Beinahe
ebenso schlicht, um nicht zu sagen einfallslos, mutete die 08 / 15-Predigt
des Pfarrers an, wie geschaffen, um Sydows Vorurteile zu bestätigen. Auf die Gefahr,
sich einen weiteren Rippenstoß der blonden, attraktiven und zuweilen energischen
RIAS-Redakteurin, mit der er verheiratet war, einzuhandeln, hörte er deshalb nur
mit einem Ohr hin und blickte sich in einem unbeachteten Moment um. Die Trauernden
konnte man an einer Hand abzählen, und wenn er ehrlich war, hatte er die Hälfte
davon nie gesehen. Näher bekannt war ihm lediglich Tante Lus Anwalt, mit dem er
um halb drei verabredet war, mehrere Mitbewohnerinnen des Seniorenheims, in dem
sie gelebt sowie die Stationsschwester, mit der sie die meiste Zeit über zu tun
gehabt hatte. Freunde, falls Tante Lu dieses Wort je in den Mund genommen hatte,
waren dagegen nicht erschienen, nur ihre knapp 70-jährige Haushälterin, die 30 Jahre
lang von ihr herumkommandiert worden war.
Ebenfalls
anwesend war darüber hinaus eine Frau Anfang 40, ganz in Schwarz und das Gesicht
hinter einer Sonnenbrille verborgen. Sydow wurde das Gefühl nicht los, sie schon
einmal gesehen zu haben, drehte jedoch, als sich ihre Blicke trafen, den Kopf wieder
nach vorn.
Die Predigt,
welche der Pfarrer in Rekordzeit hinter sich gebracht hatte, war zu Ende. Sydow
atmete auf und konnte der Versuchung, Gott oder wem auch immer dafür zu danken,
nur mit Mühe widerstehen. Vonseiten seiner Frau, die anscheinend Gedanken lesen
konnte, trug ihm dies ein anerkennendes Kopfnicken ein. Froh um jede Aufmunterung,
rückte Sydow seine Krawatte zurecht, bot Lea den Arm an und beeilte sich, den Sargträgern,
die es genauso eilig wie der Pfarrer zu haben schienen, zu folgen.
Dabei wurde
ihm bewusst, dass er weder eine Träne vergossen noch sonst irgendwelche Emotionen
gezeigt hatte. Er schämte sich dafür, und nicht zu knapp. Warum fiel es ihm so schwer,
Gefühle zu zeigen, Lea gegenüber einmal ausgenommen? Das fragte er sich nicht zum
ersten Mal und beruhigte sich mit dem Gedanken, dass dies mit seiner Erziehung zusammenhing.
Während seiner Jugend, von der er einen Großteil in Internaten verbracht hatte,
war Disziplin oberstes Gebot und die Zurschaustellung von Emotionen ein Ausdruck
von Schwäche gewesen. Das war ihm immer wieder eingetrichtert worden, von morgens
bis abends, ob auf dem Herrensitz am Ruppiner See, unweit von Wuthenow, auf dem
er groß geworden, oder auf der Polizeischule, wo er auf Führer und Vaterland eingeschworen
worden war. Zwar war dies nur in unzureichendem Maße gelungen, hatte aber dazu geführt,
dass er sich Fremden gegenüber äußerst reserviert, wortkarg und bisweilen schroff
verhalten hatte. Und wohl immer noch verhielt. Alles Eigenschaften, die den Letzten
aus dem Hause derer von Sydow mit der Verstorbenen, geradezu ein Musterbeispiel
an Reserviertheit, verband. Von seinem Humor, ein Erbstück seiner britischen Mutter,
gar nicht zu reden.
Sydow seufzte
gequält. Zum Glück gab es da noch Lea, die ihm die Flausen, welche er an den Tag
legte, nicht durchgehen ließ. Sonst würde er so enden, wie es bei Tante Lu offenbar
der Fall gewesen war. Respektiert, mitunter auch gefürchtet, in Ehren gehalten,
aber nicht wirklich geliebt. Mit einem Wort: ein Mensch, für den das Wort ›Kompromiss‹
auf gleicher Ebene wie ›Kapitulation‹ rangierte.
»Nach Ihnen,
gnädige Frau!« Weshalb er der Unbekannten im aparten schwarzen Kostüm den Vortritt
ließ, konnte sich Sydow nicht erklären. Geschehen war jedoch nun einmal geschehen,
und so schritt er mit Lea hinter ihr her, trat ins Freie und folgte den Sargträgern,
welche den Weg zum frisch ausgehobenen Grab in unmittelbarer Nähe der Friedhofsmauer
einschlugen. Die Fremde indes, blond, mit Bubi-Schnitt, gertenschlank und beinahe
so groß wie er, wandte sich dagegen dem Ausgang zu. Sydow konnte nichts anders,
als ihr hinterherzusehen, was, wie er sehr wohl wusste, weder an ihren Stöckelschuhen,
noch an dem sündhaft teuren Kostüm, noch am Hut im Stil der Zwanziger oder an der
Art lag, wie sie sich bewegte. Für Sydow, in jüngeren Jahren ein
Weitere Kostenlose Bücher