Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)
einfach so?«
Ein sibyllinisches
Lächeln im Gesicht, ließ die Angesprochene den Verschluss ihrer Handtasche einrasten,
hängte sie um und schlenderte auf Morell zu. »Einfach so!«, wiederholte sie, nachdem
sich ihr Lächeln wieder verflüchtigt hatte. »Mit der Bitte, sinnvollen Gebrauch
davon zu machen.«
»Weißt du
eigentlich, wie viel Geld dieser Fetzen wert ist?«, wollte Morell wissen und wedelte
mit der Karteikarte vor dem Gesicht herum, um sie anschließend in der Bruttasche
verschwinden zu lassen. »Ein Anruf bei der Konkurrenz, und du hättest ausgesorgt.«
»Mir geht
es nicht ums Geld, Theodor.«
»Sondern?«
»Erinnerst
du dich an das Mädchen, das zwei Häuser weiter gewohnt hat?«
»Ein Mädchen
in deinem Alter?«
»Mit anderen
Worten: Du erinnerst dich nicht!«, resümierte Luise Nettelbeck, worauf das Lächeln,
an dem Morell zusehends Gefallen fand, erneut aufblitzte. »Nicht so schlimm, Herr
Morell – oder soll ich nicht doch lieber Rosenzweig sagen?«
»Such es
dir aus, Luise.«
»Einerlei
– sie hieß Miriam Friedländer, war zwei Jahre älter, im Gegensatz zu mir bildhübsch
und meine beste Freundin. Du kannst dir denken, was jetzt kommt? Kurz nach dem Beginn
des Russlandfeldzuges ist sie mit ihrer gesamten Familie Richtung Osten deportiert
worden. Wohin, wusste kein Mensch. Und weißt du, was das Schlimmste dabei war, Theo?
Sie hat geahnt, was auf sie zukommen würde. Ich weiß gar nicht, wie oft ich auf
sie eingeredet, wie sehr ich gedrängt und vor möglichen Konsequenzen gewarnt habe.
Vergebens. ›Das werden sie uns nicht antun!‹, hat sie immer wieder gesagt. Und ob
sie ihr das angetan haben! Zum Abschied hat sie mir dann rasch ein Dutzend Postkarten
gezeigt – allesamt mit meiner Adresse. ›Alle drei Tage werde ich dir schreiben!‹,
hat sie mir versichert. ›Mindestens!‹ Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.«
»So wie
ihr ist es vielen von uns gegangen.«
»Ich weiß,
David. Das Schlimmste sollte indes noch kommen.«
Morell senkte
den Kopf und schwieg.
»Vor ein
paar Wochen bin ich dem SS-Mann, der die Deportation beaufsichtigt hat, über den
Weg gelaufen.«
»Schauplatz:
die BND-Zentrale in Pullach.«
Luise Nettelbeck
nickte. »Purer Zufall, aber ein Zufall mit Folgen. Von da an, Theo, gab es kein
Zurück mehr für mich.«
»Und was
wirst du jetzt tun? In Berlin kannst du dich ja wohl nicht mehr blicken … ich meine:
Du bist nirgendwo mehr sicher, ist dir das klar?«
»Voll und
ganz!«, versicherte die Ex-Sekretärin, warf ihm einen kurzen Blick zu und stieg
die Treppe zum Vorraum hinab. Am Portal angekommen, drehte sie sich noch einmal
um. »Ich wollte einfach noch mal nach Hause. Ein allerletztes Mal. Schließlich bin
ich in Berlin groß geworden.«
Morell öffnete
den Mund, um etwas zu sagen. Der Kloß in seinem Hals saß jedoch so fest, dass er
keinen Ton herausbrachte.
»Heute Abend
um sechs geht mein Flugzeug. Nach Frankfurt am Main, mit Anschluss nach New York.
Dort lebt eine Cousine von mir, bei der ich fürs Erste unterkommen kann. Danach
werden wir weitersehen.«
»Auf Wiedersehen,
Luise«, brach es aus Morell hervor, obwohl ihm schwante, dass dies ein Abschied
für immer sein würde. »Und pass auf dich auf!«
»Du auch,
David«, antwortete sein Gegenüber, hob die Hand zum Gruß und wandte sich zum Gehen.
»Sieh zu, dass du nicht vollends unter die Räder …«
Eine Hundertstelsekunde
später, unter dem Eindruck der Schüsse, die wie von fern an seine Ohren drangen,
brach Theodor Morells Welt endgültig zusammen. Vor Schreck wie gelähmt, wich der
Boulevardreporter zurück und starrte auf die Gestalt, die, gleich einem surrealistischen
Gebilde, unter dem Türsturz lag. Mit Luise, dem Nachbarskind aus Jugendtagen, hatte
sie nichts mehr gemein. Ihr Kopf war förmlich explodiert, die Schädeldecke von den
abgefeuerten Projektilen einfach weggerissen und in zahllose Splitter zerfetzt worden.
Ringsum war der Marmorboden mit Blutspritzern übersät, vermischt mit Gehirnmasse,
die aus dem offenen Schädel spritzte. Morell wollte schreien, aber alles, was er
zustande brachte, war ein halblautes Gurgeln. Wollte fliehen, besaß jedoch nicht
die Kraft dazu. Verdammt zum Zusehen, verharrte er auf der Stelle, wie in einem
Albtraum, aus dessen Fängen er sich nicht befreien konnte.
Kurz davor,
sich zu übergeben, rang der Boulevardreporter nach Luft. Kein Zweifel, dies war
kein Hirngespinst, kein Trugbild, keine Ausgeburt seiner Fantasie. Dies war
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