Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)
Vater, einem hohen Beamten im
Außenministerium, scheiden lassen und war nach England zurückgekehrt. Dort hatte
sie, wie viele andere auch, der Krieg zwar eingeholt. Dank außerordentlicher Zähigkeit
und ihres Durchhaltevermögens hatte Mutter die Londoner Bombennächte jedoch unbeschadet
überstanden.
Ein Schicksal,
das dem Freiherrn Adalbert von Sydow und seiner Tochter Agnes, Sydows Schwester,
nicht beschieden war. Am 3. Februar 1945, während einem verheerenden, wenn nicht
gar dem verheerendsten Luftangriff des gesamten Krieges, war ihr Haus am Lützowplatz
in Schutt und Asche gelegt und der Ministerialdirigent im Außenministerium mitsamt
seiner Tochter im Keller verschüttet worden. Laut Aussagen von Nachbarn, bei denen
Sydow nach dem Krieg Nachforschungen angestellt hatte, waren von den beiden nur
noch Überreste gefunden worden. Damaligen Gepflogenheiten entsprechend waren Vater
und Tochter kurz darauf in einem der zahlreichen Massengräber bestattet worden,
wo genau, hatte sich nicht mit letzter Sicherheit ermitteln lassen.
Für Sydow,
dem die wochenlange Suche schwer zugesetzt hatte, war dies der Tiefpunkt in einem
an Widrigkeiten nicht gerade armen Jahrzehnt gewesen. Aber zum Glück gab es da noch
Tante Lu, ihren unerschütterlichen Optimismus und die vielfältigen Beziehungen,
welche sie zur britischen Militäradministration gepflegt hatte. Nicht zuletzt aufgrund
dieser Beziehungen war Sydow schließlich wieder bei der Kripo gelandet. Angesichts
der Tatsache, dass es dort von ehemaligen Parteigenossen nur so wimmelte, fast schon
ein kleines Wunder. Schließlich war er nach seiner Flucht einer der meistgesuchten
Regimegegner gewesen, was dem Ruf, der ihm vorauseilte, nicht gerade förderlich
gewesen war.
Das Dritte
Reich war mit Pauken und Trompeten untergegangen, der Geist, der in ihm geherrscht
hatte, dagegen nicht. Dieser Tatsache musste man ins Auge schauen, und Sydow hegte
den Verdacht, dass sie heute, 17 Jahre nach dem Krieg, nichts von ihrer Brisanz
verloren hatte. Die Strippenzieher von damals waren immer noch in Amt und Würden,
die Syndikate, denen sie angehörten, einflussreicher denn je.
Wie dem
auch sei, Tante Lu, vor drei Tagen an den Folgen einer Lungenentzündung verstorben,
hatte ihren Willen bekommen. Sydow, mit 49 nicht mehr der Jüngste, hatte ihr versprechen
müssen, dass sie hier, und nur hier, bestattet werden würde. Die kleine Dorfkirche,
Fontane zufolge von einem Tempelritter erbaut, war Tante Lus Taufkirche gewesen.
Vieles, so zum Beispiel der nahe Weiher, die von Haselnusssträuchern und Hagebutten
umgebene Kirchhofsmauer und die verwitterten Grabsteine samt Veilchenteppichen,
erinnerte noch an den Dichter, in dessen Epoche man sich hier automatisch zurückversetzt
fühlte. Das Gleiche galt für das Innere der aus Feldsteinen erbauten Kirche, und,
nicht zu vergessen, für den Flügelalter an der Wand. Kein Zweifel, dies war ein
Ort, an dem die Zeit stehen geblieben war. Und ein Grund mehr, dem Wunsch seiner
Tante zu entsprechen.
Nicht ganz
so leicht war ihm dies bei den anderen Punkten gefallen, die sie ihm in den Block
diktiert hatte. Zunächst einmal war da die preußische Fahne, von der Tante Lu partout
nicht hatte lassen wollen. Allein, Widerstand war wie so oft zwecklos gewesen, und
er tröstete sich mit dem Gedanken, dass man die Politik zuweilen Politik sein lassen
musste.
Kaum anders
war es ihm mit der dritten Bedingung ergangen, die Tante Lu als Bestandteil eines
Begräbnisses einer Dame von Stand betrachtete. Der Choral von Leuthen [26] musste erklingen,
in voller Länge, versteht sich, untermalt von der Kirchenorgel, deren Klänge Sydow
soeben wachrüttelten.
Fast zeitgleich
mit dem ›Nun danket alle Gott‹, in das er widerstrebend einstimmte, musste Sydow
einen Rippenstoß seiner Frau hinnehmen, die neben ihm in der vordersten Reihe saß.
Sydow lächelte verschämt. Lea, seit gerade einmal fünf Tagen 46 und somit drei Jahre
jünger als ihr hochgewachsener, rotblonder und beileibe nicht mehr idealgewichtiger
Mann, war nicht der Typ, der Drückebergerei durchgehen ließ. Das hätte er eigentlich
wissen müssen.
»Kopf hoch,
mein Schatz, bald ist es überstanden.« Nach über neun Jahren Ehe mit seiner Jugendliebe,
in die er immer noch über beide Ohren verknallt war, hatte er gelernt, die ernst
gemeinten von den scherzhaften Rüffeln zu unterscheiden. Eine Erfahrung, die ihm
jetzt zugutekam. »Sie war 87, vergiss das nicht.«
Wie konnte
er. Tom Sydow
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