Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)
die
Wirklichkeit, die grausame, durch nichts zu übertrumpfende, ihn wie ein Würgegriff
umklammernde Wirklichkeit.
Kalkweiß
im Gesicht, lauschte Morell nach draußen. Auf einmal war alles wieder so wie damals,
als ihm die Peiniger dicht auf den Fersen waren. Die Beine drohten den Dienst zu
versagen, das Herz hämmerte gegen die Rippen, der Atem raste, die Schläfen pochten
und die Gedanken von David Emanuel Rosenzweig kreisten unentwegt um die Frage, wie
lange er wohl noch zu leben haben würde.
Eine Frage,
auf die er auch jetzt, 20 Jahre später, keine Antwort wusste.
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Berlin-Tempelhof, Dorfkirche
Alt-Tempelhof │ 13:20 h
Es gab drei Sorten von Menschen,
auf die Tom Sydow, Hauptkommissar der Kripo Berlin, derzeit nicht gut zu sprechen
war. An erster Stelle rangierten die Vopos [25] , an zweiter, so merkwürdig dies auch klang, die Politiker
aus Bonn und auf Platz drei Strafverteidiger und Anwälte. Besonders Letztere setzten
ihm immer wieder zu, fast noch mehr als das Aktenstudium, welches ihn regelmäßig
zur Verzweiflung trieb.
Was die
Volkspolizisten betraf, teilte er die Antipathie, welche die Westberliner gegen
sie hegten. Dass die Kollegen aus dem Osten am Mauerbau beteiligt gewesen waren,
war schon schlimm genug gewesen. Darüber hinaus hatte sich einer von ihnen seine
Stieftochter geangelt, nur um sie wenige Wochen nach der Hochzeit zu hintergehen.
Veronika, genannt Vroni, war natürlich sofort ausgezogen, aber das änderte nichts
daran, dass sie in Treptow festsaß und kein Mensch wusste, wann und wie sie wieder
nach Hause in den Westen kommen würde.
Westdeutsche
Politiker konnte Sydow ebenso kaum noch ertragen, vor allem nicht ihre Sonntagsreden,
die zwar gut klangen, aber an dem, was Ulbricht& Co. angerichtet hatten,
so gut wie nichts änderten. Da wurde über Nacht die Mauer hochgezogen, und Adenauer
brauchte volle neun Tage, um seinen Hintern nach Berlin zu bewegen. Das sollte mal
einer verstehen. Solidaritätsbekundungen kosteten bekanntlich nichts, aber damit,
so seine Befürchtung, war es nicht getan. Um das Los der Berliner erträglicher zu
gestalten, reichten Reden nicht aus, und nicht nur Sydow hätte es begrüßt, wenn
den Worten endlich Taten gefolgt wären.
Mit der
dritten Spezies, die Sydow auf dem Kieker hatte, den Herren Advokaten, war es seiner
Meinung nach ebenfalls nicht weit her. Ein Vierteljahrhundert in Diensten der Berliner
Kripo hatte eben seine Spuren hinterlassen, vor allem, was sein Vertrauen in die
Redlichkeit von Anwälten betraf. Dieser Sorte Mensch war einfach nicht zu trauen,
und niemand, nicht einmal sein Kollege und Freund Krokowski, hatte es geschafft,
ihn von seiner Meinung abzubringen.
Was seinen
Werdegang anging, hatte Sydow Höhen und Tiefen hinter sich. Der Tod seiner Verlobten,
mit der er 1942 aus Deutschland geflüchtet war, hatte ihn wie kaum ein anderes Erlebnis
geprägt, und er konnte von Glück sagen, dass es seine Tante gab. Wenn, dann war
sie es, derentwillen er sich heute zusammengerissen und die Zurückhaltung, welche
er gegenüber Geistlichen an den Tag legte, überwunden hatte.
Er hatte
ihr viel zu verdanken, jener bestimmenden, zuweilen schroffen und überaus kühl und
distanziert wirkenden Monarchistin aus märkischem Geblüt, deren sterbliche Überreste
in dem schlichten Eichenholzsarg in unmittelbarer Nähe des Altars ruhten. Und er
hatte sie, wenn schon nicht geliebt, so doch immerhin geschätzt und verehrt. Luise
von Zitzewitz, geborene von Sydow und bei Kriegsende vor der Roten Armee geflüchtete
Gattin eines pommerschen Rittergutsbesitzers, war zwar nicht gerade das gewesen,
was man als Sanftmut in Person bezeichnete. Dennoch oder gerade deswegen war sie
die Richtige gewesen, um Sydow wieder auf Vordermann zu bringen, und das, neben
anderen Wohltaten, würde er ihr nie vergessen.
Es war nicht
einfach, von Tante Lu Abschied zu nehmen, nicht zuletzt, weil er außer ihr keine
Verwandten mehr besaß. Oder, um es akkurat auszudrücken, besessen hatte. Nun gut,
da war noch seine Mutter, die hätte er um ein Haar vergessen. Da sie jedoch in London
lebte und er sie seit eineinhalb Jahrzehnten nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte,
verband ihn kaum noch etwas mit ihr. Das hörte sich gewiss hart und herzlos an,
war aber eine Folge der Familienhistorie und von der Wahrheit nicht allzu weit entfernt.
Schon sehr früh, als Sydow noch die Schulbank drückte, hatte sich Abigail Wentworth,
Tochter des sechsten Earl of Strafford, von seinem
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