Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)
auch noch ein Tag.«
»Da erbst
du einen Haufen Geld und es interessiert dich nicht einmal. Das soll mal einer verstehen.«
»Geld allein
macht nicht glücklich.«
»Bevor du
mir einen Vortrag hältst, was Glück bedeutet, lass dir gesagt sein, dass …«
»Geld eine
ungeheuer beruhigende Wirkung hat, ich weiß«, vollendete Sydow, was dazu führte,
dass Lea überrascht aufblickte und ihren Mann prüfend ansah. Im Gegensatz zu sonst
war ihm nicht nach Scherzen zumute, und die Miene, die er zur Schau trug, ließ sie
die Unterlagen vergessen.
»Irgendetwas
nicht in Ordnung, Tom?«
»Gute Frage.«
»Familiengeheimnisse?«
»Kann man
wohl sagen!« Die Stirn in Falten, ließ es Sydow bei der knappen Antwort bewenden
und nahm auf dem Stuhl vor dem Schreibsekretär Platz. Dann öffnete er den Umschlag,
der an seine Tante adressiert war, faltete den darin befindlichen Briefbogen auseinander
und begann zu lesen. Naturgemäß nahm dies geraume Zeit in Anspruch, aber Sydow schien
so sehr in seine Lektüre vertieft, dass er jegliches Zeitgefühl verlor.
Er hatte
Blut geleckt, konnte offenbar nicht genug bekommen. Kaum hatte er den Brief gelesen,
zusammengefaltet und wieder in den Umschlag gesteckt, nahm er sich den nächsten
vor, auch er, wie das restliche halbe Dutzend Schriftstücke, die Sydow studierte,
an seine zum damaligen Zeitpunkt noch in Pommern beheimatete Tante adressiert. »Hör
dir das mal an, Lea.«
»Was denn?«
»Eine Glückwunschkarte
von Vater. Poststempel: 30. Dezember 1944. ›Prosit Neujahr‹ – na, der hatte vielleicht
Nerven!«
»Die Hoffnung
stirbt bekanntlich zuletzt, oder?«, erwiderte Lea Sydow, legte die Kladde mit der
Aufschrift ›Von Zitzewitz – letztwillige Verfügung (Kopie)‹ beiseite und trat neben
ihren Mann, der mit jeder Minute, während der er sich in die Korrespondenz seiner
Tante vertiefte, nachdenklicher geworden war. »Dass er sterben würde, konnte dein
Vater nicht wissen.«
»Hm.« In
Gedanken woanders, hörte Sydow nur mit einem Ohr hin. »Hier!«, sprach er geraume
Zeit später und überreichte Lea einen Bogen, der die gestochen scharfe Handschrift
seines Vaters trug. Der Brief stammte vom 12. Januar 1945, dem Tag, an dem die sowjetische
Winteroffensive begann. Millionen Deutsche hatten damals die Flucht ergriffen, unter
anderem auch Tante Lu. »Das musst du dir mal ansehen.«
Eher zögerlich
nahm Lea den Brief zur Hand und begann zu lesen, während Sydow eine Schwarz-Weiß-Fotografie
in die Hände fiel, von deren Anblick er sich lange Zeit nicht losreißen konnte.
Die Rückseite trug die Aufschrift ›24. Dezember 1944‹, die Vorderseite zeigte Vater
und Agnes, friedlich vereint unter dem Weihnachtsbaum. Eine – sozusagen die deutsche
– Hälfte der Familie, während sich die andere im fernen London aufhielt.
Während
sein Blick von Agnes zu Vater und zurück zu seiner Schwester wanderte, spürte Sydow
einen faustdicken Kloß im Hals. Zum damaligen Zeitpunkt hielt er sich bereits zweieinhalb
Jahre in England auf, im Beisein von Rebecca, mit der er sich am gleichen Tag verlobt
hatte. Weder von Vater noch von Agnes hatte er je wieder etwas gehört, und er fragte
sich, was sie mit der Uniformträgerin auf dem Bild und dem Wildfang aus Kindheitstagen
gemeinsam hatte.
Nach der
Machtergreifung, kaum merklich zunächst, hatten sich die Wege der beiden Geschwister
getrennt, und das nicht nur im räumlichen Sinn. Agnes war dem BdM [38] beigetreten, weniger
aus Überzeugung, wie sie freimütig bekannte, sondern weil sie im Gegensatz zu ihm
gerne unter Leuten und ständig auf der Suche nach Abwechslung und Unterhaltung war.
Richtig schlimm war es mit ihr erst an Hitlers Fünfzigstem geworden, als sie dem
größten Verbrecher aller Zeiten persönlich begegnet war. Von da an, kurz vor Kriegsbeginn,
hatte man kein vernünftiges Wort mehr mit ihr reden können, schon gar nicht, als
sich abzeichnete, dass Deutschland den Kürzeren ziehen würde. Mit jedem Tag, an
dem neue Hiobsbotschaften von der Front eintrafen, war Agnes ein Stück fanatischer
geworden, hatte ihr Studium abgebrochen, Karriere bei der NS-Frauenschaft gemacht
und sich in eine willfährige Marionette des Regimes verwandelt. Zäh wie Leder, skrupellos
wie Himmler und fanatischer als Goebbels, um es in Abwandlung des sattsam bekannten
Führer-Diktums zu formulieren. Wie geschaffen für eine Clique, für die das Wort
›Verbrechen‹ offenbar nicht existierte.
»Das … darf
doch wohl nicht … Tut mir leid,
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