Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)
er garantiert den Kürzeren ziehen würde, erst gar nicht ab. »Versteh doch
– als Kripo-Beamter ist man immer im Dienst!«
»Und was
ist mit der Abendgesellschaft bei deinem Chef? Davor kannst du dich nicht auch noch
drücken.«
»Aber die
ist doch erst um acht, Lea!«, wiegelte Sydow ab, wählte Krokowskis Nummer und setzte
eine Unschuldsmiene auf, bei deren Anblick Lea in ungläubiges Gelächter ausbrach.
»Bis dahin bin ich längst wieder … Bist du’s, Kroko? … Da denkst du richtig, ich
habe frei. Ich dachte, ruf mal kurz an, um zu fragen, ob bei denen alles in … Wie
bitte? Theo Morell? Willst mich wohl veräppeln, was?«
»Du bist
das hintertriebendste Schlitzohr, das ich kenne, Sydow, weißt du das?«
Natürlich
wusste er das. Und er wusste sehr wohl, was der Tonfall seiner Frau und das Ignorieren
seines Vornamens zu bedeuten hatten. Aller Einsicht zum Trotz gab er jedoch keine
Antwort, schleuderte den Hörer auf die Gabel und bedeutete Lea, ihm zu folgen.
»Erklär’
ich dir später!«, war alles, was ihm zu sagen einfiel, nachdem sie ihrem Unmut Luft
gemacht und er sie unter Aufbietung all seiner Überredungskünste dazu gebracht hatte,
in seinen Aston Martin zu steigen. »Bin schneller wieder da, als du denkst.«
Oder auch
nicht, fuhr es ihm im gleichen Moment durch den Sinn.
Aber das
wagte er nicht auszusprechen.
Und gab
Gas.
9
Berlin-Charlottenburg, Friedhof
Heerstraße │ 15:40 h
Rien ne va plus. Nichts geht mehr,
altes Haus.
Theodor
Morell, Berlins meistgesuchter Mordzeuge, wog die Steine, welche er aufgesammelt
hatte, in der Fläche seiner Hand, trat an das verwahrloste Grab und murmelte das
jüdische Totengebet. Es war lange her, dass er zum letzten Mal hier gewesen war,
zu lange, um behaupten zu können, er halte seine Retterin in Ehren.
Angebracht
wäre dies nämlich allemal gewesen. Frau Jähnke, die hier begraben lag, war es zu
verdanken, dass Theo Morell alias David Rosenzweig überhaupt noch am Leben war.
Die Rentnerin hatte nicht gezögert, ihm Unterschlupf zu gewähren, und das, obwohl
sie den Neffen ihrer Freundin nur vom Sehen kannte. Ihre Laube, Teil einer Kolonie
unweit des Kurfürstendamms, war zwar nur mit Teerpappe verkleidet und nicht übermäßig
geräumig gewesen. Dennoch waren ihm die fünf Quadratmeter, wo er über zwei Jahre
ausharren musste, zeitweise wie das Paradies vorgekommen.
›Elsbeth
Jähnke (1877-1957)‹ – er war ihr zu Dank verpflichtet, weit mehr, als er mit Worten
ausdrücken konnte. Muttchen, wie er sie liebevoll nannte, hatte das Wenige, was
sie besaß, mit ihm geteilt und ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um seines zu retten.
Morells Blick schweifte in die Ferne. Gut drei auf zwei Meter, eigentlich nur ein
Bretterverschlag, der durch eine Tapetentür zugänglich war. Ausgestattet mit einer
Liege, vornehme Bezeichnung für eine Matratze, die auf einem Holzrahmen ruhte. Dazu
ein Tisch, ein wackeliger Stuhl und ein Fenster, das so klein war, dass man nicht
einmal den Kopf hindurchstecken konnte. Die Tüllgardine, die den Blick ins Innere
verwehrte, nicht zu vergessen.
Das war
seine Welt gewesen, nicht gerade das Adlon, unter den gegebenen Umständen jedoch
die Rettung. Richtig schlimm war es erst in den Bombennächten geworden, während
denen er gezwungen war, dort auszuharren. Während sich andere in den Luftschutzkellern
verkrochen hatten, war er, der Verfemte, dem Inferno schutzlos preisgegeben gewesen.
Eines Nachts, als die Gefahr besonders groß gewesen war, hatte er sogar zu beten
begonnen. Ein Ereignis, das er nie und nimmer für möglich gehalten hätte.
Gefangen
im Netz der Erinnerungen, ließ Morell seinen Reminiszenzen freien Lauf. Er hatte
gebetet, gut und schön, religiös war er deswegen noch lange nicht. Seit Jahren,
wenn nicht gar Jahrzehnten, hatte er keine Synagoge mehr von innen gesehen, und
nichts deutete darauf hin, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern würde. Das hieß
jedoch nicht, dass er ein Atheist war, höchstens ein wenig skeptisch, was den Ratschluss
des Gottes seiner Vorväter betraf.
Der Grund
hierfür lag auf der Hand. Es war noch nicht lange her, als Deutsche, und nicht nur
Deutsche jüdischen Glaubens, verfolgt, gedemütigt, ihrer Rechte beraubt und millionenfach
ermordet wurden. Wo war Gott in jener Zeit gewesen, hatte er sich von seinem Volk
abgewandt? Wo war er gewesen, als Leute wie Himmler, Heydrich und Eichmann die Szene
betreten und ihr blutiges Handwerk verrichtet hatten?
Wo
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