Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)
gewesen.
Gestern?
Plötzlich
war alles so wie früher, der Krieg, in dem sich sein Schicksal entschied, noch in
vollem Gange. Und plötzlich war da dieser Mann, der durch die menschenleeren Straßen
hastete. Man schreibt das Jahr 1943, ein Jahr, welches er nie mehr vergessen wird.
Der Mann namens Morell befindet sich auf der Flucht, vor der Polizei, vor der Gestapo,
vor den Bombern der Alliierten, welche ihn in Kürze einholen werden. Vor Angst kreidebleich,
rennt der 32-Jährige um sein Leben. Morell hätte sich ohrfeigen können. Mutter Jähnke,
seine Schutzpatronin, hat ihm eingeschärft, die Laube nicht zu verlassen. Unter
keinen Umständen. Und was tut er? Er, der steckbrieflich Gesuchte, hat nichts Besseres
zu tun, als sein Leben aufs Spiel zu setzen, indem er sein Versteck verlässt, um
sich die Beine zu vertreten. Das ist nicht nur töricht, sondern auch rücksichtslos.
Rücksichtslos gegenüber der Frau, die ihr Leben riskiert, um das seinige zu retten.
U-Bahnhof
Fehrbelliner Platz, circa 500 Meter von seinem Unterschlupf entfernt. Die Straßen
wie leergefegt, im Dunkeln glitzernd und noch feucht vom Regen, der vor zehn Minuten
aufgehört hat. Das Geräusch der Luftschutzsirenen im Ohr, hastet Morell vorwärts,
stößt einen Luftschutzhelfer zur Seite, der ihn anbrüllt, er solle sich in Sicherheit
bringen.
Sicherheit
– und das ihm!
22. November
1943, kurz vor acht. Knapp 700 Flugzeuge nähern sich Berlin. Lichtkegel erhellen
den Himmel, die Flak feuert aus allen Rohren. Das Inferno, welches sich von Westen
her nähert, im Ohr, rennt Morell um sein Leben, stolpert, fällt der Länge nach hin
und rappelt sich wieder auf. In der Ferne fallen die ersten Bomben. Den Tod vor
Augen, humpelt Morell auf die Laubenkolonie zu, in der sich die Behausung von Frau
Jähnke befindet. Und dann geschieht es. Die Glut, welche sich aus den Schalen des
Zorns ergießt, fällt vom Himmel. Starr vor Entsetzen, bleibt Morell stehen, wirft
einen Blick nach oben – und schleppt sich mit letzter Kraft weiter.
Dann tastet
er nach dem Schlüssel, der in der Ritze neben dem Türbalken steckt.
Und bringt
sich in Sicherheit.
*
Das tat auch ein gewisser David
Rosenzweig, von Beruf Boulevardreporter, erleichtert, endlich am Ziel zu sein.
Man schreibt
den 31. Mai 1962, der Tag, an dem seine Irrfahrt zu Ende sein wird.
21
Berlin-Wannsee, Sydows Haus
in der Seestraße │ 19:40 h
»Schön, dass du dich mal wieder
blicken lässt!«, fauchte ihn Lea an der Haustür an. »Ich hoffe, du hattest einen
angenehmen Nachmittag.«
Weniger
denn je auf Ärger aus, nahm Sydow den Köder, den ihm seine Frau hinwarf, nicht auf,
trat in den Gang und hängte das ungeliebte Jackett an die Garderobe.
»Was ist
– hat es dir die Sprache verschlagen?«
Kann man
so sagen!, dachte Sydow im Stillen und warf einen Blick über die Schulter, um die
Lage zu sondieren. Die Vorfreude war ihm ins Gesicht geschrieben, und er fragte
sich, wann seine Mutter ihren großen Auftritt haben würde.
So weit
sollte es jedoch nicht kommen.
Noch nicht.
»Wenn du
wüsstest, was ich hinter mir habe.« Kaum war ihm der Satz über den Lippen,
hätte sich Sydow am liebsten auf die Zunge gebissen. Zu spät. »Wie bitte? Hör’ ich
recht?« Außer sich vor Wut, lief Lea zur Höchstform auf. Das kam zum Glück recht
selten vor, aber davon konnte er sich jetzt nichts kaufen.
Am Boden
zerstört, stieß Sydow ein halblautes Ächzen aus. Da wurde einem eröffnet, dass die
tot geglaubte Schwester noch unter den Lebenden weilte. Da musste man einen Mord
aufklären, wurde man Zeuge eines Mordanschlages und bekam obendrein heraus, dass
sich das Opfer, ein alter Bekannter, mit dem BND angelegt hatte, welcher seinerseits
alles tat, um die Spuren seines Tuns zu verwischen.
Ein bisschen
viel auf einmal, oder?
Von dem
Kuhhandel, den ihm der Unbekannte vorgeschlagen hatte, erst gar nicht zu reden.
So lange Sydow denken konnte, hatte er einen Tag wie diesen nicht erlebt, außer
vielleicht anno ’42, als es ihm beinahe an den Kragen gegangen war.
»Wenn du
wüsstest, was ich hinter mir habe!«, fuhr ihn Lea in bitterbösem Tonfall an, Tränen
in den Augen und so aufgebracht, wie er sie selten erlebt hatte. »Damit kannst du
bestimmt nicht …«
»Was ist
los, Lea?«, fuhr Sydow dazwischen, irritiert wegen des Wutausbruchs, der so gar
nicht zu seiner Frau passen wollte. »Ist irgendetwas mit …«
Im Begriff,
nach seiner Mutter zu fragen, hielt Sydow im letzten
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