Eichmann wurde noch gebraucht: Der Massenmörder und der kalte Krieg (German Edition)
Die Bundesrepublik im Mai 1960
Frühlingsstimmung herrscht im Regierungsviertel am Rhein, die Krokusse strecken ihre Köpfe aus dem Boden. Das dunkle Kapitel des Tausendjährigen Reiches soll endlich Teil der Vergangenheit werden. Die Bevölkerung sitzt am Nierentisch vor dem Fernseher, das Auto parkt vor dem Gartentor. Das Wirtschaftswunder macht die Verdrängung leicht.
Dank internationaler Verträge sind für die Strafverfolgung von deutschen Kriegsverbrechern die deutschen Gerichte zuständig, und die machen wenig Anstalten, die Amtsstuben zu durchforsten. Dort sitzen dieselben »erprobten« Juristen, die im Dritten Reich treu ihren Dienst versehen hatten.
Auf internationalem Parkett darf der junge Bonner Staat wieder mitreden. Die Konzentrationslager sind vor fünfzehn Jahren geschlossen worden, und weder in Paris noch in Washington sind sie ein Thema – der Kalte Krieg beherrscht das Tagesgeschehen in der Politik. Mit dem ebenfalls jungen Staat Israel hat man zwar noch keine offiziellen diplomatischen Beziehungen, aber das Wiedergutmachungsabkommen von 1952 hat das Verhältnis deutlich entspannt. Mit Ministerpräsident David Ben Gurion hatte sich Adenauer erst im März in New York getroffen und eine weitreichende Zusammenarbeit verabredet.
Aus Argentinien erwartet Adenauer keine Überraschungen. Dort, am anderen Ende der Welt, träumen Widersacher von rechts von ihrem geliebten »Führer« – den nicht wenige auf einer entlegenen Estancia in Patagonien vermuten – und von einem Deutschland in den Grenzen von 1934, einige sogar von den Grenzen von 1939 oder noch später. Das Freikorps Deutschland und die Bruderschaft beschimpfen die Regierung in Bonn als Verräter und US-Knechte. Ihre Anhänger in Deutschland werden vom Verfassungsschutz überwacht, die Sozialistische Reichspartei ist seit 1952 verboten – der Große Bruder in Washington will keine neue NSDAP oder eine nationalistische Partei. Das braune Exil ist für Adenauer schon lange nicht mehr ein Fundus für Amtsträger in Wartestellung, sondern eine peinliche Last. Trotzdem alimentieren Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz den einen oder anderen für Rapporte. Man will auf Nummer Sicher gehen, man weiß ja nicht, was die Zukunft bringt, wenn diese Leute wieder vor der Haustür stehen.
Noch in diesem Jahr verjähren die während des Dritten Reiches begangenen Straftaten wie Totschlag und Beihilfe zum Mord, und in fünf Jahren, 1965, auch Mord. Spätestens dann wollen die Nazis in die Bundesrepublik zurückkehren, Ansprüche einfordern und sich in das politische Geschehen einmischen. Doch bis dahin wird noch viel Wasser den Rhein herunterfließen.
Die Rechnung der Nazis, dass sie von den Vertretern deutscher Konzerne tatkräftig unterstützt werden – so wie nach dem Ersten Weltkrieg und dem Versailler Vertrag –, ist nicht aufgegangen. Fünfzehn Jahre nach Kriegsende hat die deutsche Großindustrie ihre expansionistischen Träume an den Nagel gehängt und auf eine andere Option gesetzt. Der wirtschaftliche Wiederaufbau steht auf der Tagesordnung, man segelt im Windschatten der USA. Die deutschen Konzerne wollen die Europäische Wirtschaftsintegration und das Nordatlantische Bündnis.
Das während des Dritten Reiches geraubte Kapital ist, mehr oder weniger erfolgreich, über argentinische Dreiecksgeschäfte in den Kreislauf der Nachkriegswirtschaft gepumpt worden. Sogar das wichtigste Geldwäscheunternehmen, Mercedes-Benz Argentina, wird nach jahrelanger Zwangsverwaltung vermutlich in den nächsten Wochen endgültig legalisiert. Man ist sich mit dem argentinischen Präsidenten Arturo Frondizi einig geworden. Für Mitte des Jahres ist sein Besuch in Bonn geplant – bis dahin wird das Problem Mercedes-Benz vom Tisch sein. Neue, vielversprechende Investitionen stehen an, Frondizi hat sich bei den deutschen Industriekapitänen angemeldet, bei Ferrostahl, das an einem Hochofen in Argentinien beteiligt ist. Die Rohstoffzufuhr muss gesichert werden.
Am 16. Mai werden sich in Paris die vier Siegermächte treffen, und die Deutschen reisen ebenfalls an. Nikita Chruschtschow hat Wahlen in einem entmilitarisierten und entnazifizierten Gesamtdeutschland vorgeschlagen, Berlin solle eine »freie Stadt« werden, alle fremden Truppen sollen deutschen Boden verlassen. Doch die Westmächte nehmen dem Kremlchef nicht ab, dass er es mit der Abrüstung ernst meint. Er wolle, fürchten sie, den sowjetischen Einfluss in Europa ausweiten.
Das Pentagon
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