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Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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gestern Vormittag im Fernsehen und seitdem spukt der Ohrwurm unentwegt in seinem Kopf herum:
     
    Wenn die Bürger schlafen geh’n
    in der Zipfelmütze
    und zu ihrem König fleh’n,
    dass er sie beschütze,
    zieh’n wir festlich angetan
    hin zu den Tavernen.
    Schlendrian,
    Schlendrian,
    unter den Laternen.
     
    Im ersten Stock dringt nirgends Licht unter den Türen hervor. Auch im zweiten Stock ist alles dunkel, alles ruhig. Im dritten Stock geht er sorgfältig von Büro zu Büro, legt ein Ohr an jede Tür und horcht.
    Unnötig, alle ausgeflogen. Hier treibt sich niemand mehr herum.
    Gleich neben dem Büro für Gebäudeservice liegt das gesuchte Anwaltsbüro Detlef von der Heide.
    Na, dann man los, spornt er sich selbst an, was zu geht, geht auch wieder auf. Schlösser knacken ist keine Sache von Kraft, man braucht nur ein halbwegs ruhiges Händchen.
    Den Rüttler lässt er unberührt in der Tasche. Seit es diese Erschütterungsmelder gibt, benutzt er keinen Hochleistungsvibrator mehr, der die Sperrstifte des Profilzylinders auf die gleiche Höhe schütteln kann. Der Sputnik dagegen ist ein spezieller Grundschlüssel, der auf drei kleinen Messingbeinen sitzt. Mit denen kann er winzige Drähte aus der Schlüsselleiste ausfahren und vorsichtig auf die Sperrstifte schieben. Der Clou daran ist sein eingebautes Hochleistungsmikrofon, mit dem er das Geräusch wahrnehmen kann, wenn die Drähte aufsetzen. Er setzt die Kopfhörer auf, noch ein Tröpfchen Öl, den Schlüsselteil des Sputnik langsam einführen und die Drähte ausfahren. Das Schloss gibt ohne Widerstand nach. Das Ganze hat keine zehn Minuten gedauert.
    Wer rein will, kommt rein. Überall.
    Der Mann schiebt die Tür behutsam einen Spalt auf. Es ist immerhin denkbar, dass an der Eingangstür eine Alarmanlage montiert ist. Um das zu checken, stellt er sich auf mindestens 15 Minuten Wartezeit ein, erst dann will er das Büro betreten. Er nimmt die Brille ab, massiert mit den Handballen die Augen und starrt in die plötzliche Finsternis. Nur sein Atem ist zu hören, er geht gleichmäßig und leicht.
     
    Eigentlich kann er diese Aufträge nicht ausstehen, aber sie werden einfach saugut bezahlt. Außerdem lässt er keine Gelegenheit aus, einem untreuen Weib eins auszuwischen. Sein jetziger Klient möchte jedenfalls unbedingt erfahren, was seine Gattin zusammen mit ihrem Scheidungsanwalt über seine Vermögensverhältnisse auskakelt. Im Grunde macht er heute dasselbe wie zu seinen besten DDR-Zeiten. Damals, in seinem ersten Leben, wie er immer zu sagen pflegt. Prompt fluten die Bilder der Erinnerung in sein Bewusstsein.
    Er war gerade 19 gewesen und absolvierte den Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee, als er von einem Vorgesetzten zu einer Unterredung in einen Sonderraum abkommandiert wurde. Dort drinnen wurde er von einem Mann empfangen, der eindeutig westliche Klamotten trug.
    »Herr Rösener, haben Sie sich schon einmal die Frage gestellt, was Sie in Zukunft gerne mit Ihrem Leben machen wollen?«, fragte der eindringlich und zog demonstrativ an einer Stuyvesant.
    »Fußballspielen bei Dynamo Dresden!«, hatte er spontan geantwortet. 1987 wusste jeder Bürger, Dynamo war der Sportklub der Sicherheitskräfte und der Stasi. Der Mann zog eine Verpflichtungserklärung für die Stasi hervor und gab ihm zu verstehen, dass er es nicht bereuen würde, wenn er die jetzt unterschreiben würde. Er überlegte nicht lange, doch aus ihm wurde trotzdem kein begnadeter Fußballer. Da ihm nichts Besseres einfiel, blieb er bei der Firma, wie die Stasi unter Kollegen genannt wurde. Nach einer gründlichen Ausbildung verpflichtete er sich zum Dienst bei der konspirativen Überwachung. Man teilte ihn für die Raststätte Michendorf ein, die letzte Anlaufstelle, bevor die Westler nach West-Berlin kamen.
    Während er einen Blick auf seine Digitaluhr wirft, erscheint vor seinem inneren Auge sein damaliger Arbeitsplatz, das alte Gebäude im Landhausstil aus der Nazizeit. Daneben der neue zweistöckige Betonklotz mit dem Intershop, grau wie die gesamte DDR. Das obere Dachgeschoss war Tag und Nacht mit Stasileuten besetzt. Kein Außenstehender wusste, was da oben ablief, nicht mal die Tankwarte, von denen die meisten ebenfalls Informanten waren. Die Stasi hatte immer mindestens zwei Personen in Zivil für die Bodenüberwachung abgestellt. Er ging immer mit einem Tonbandgerät seinem Dienst nach. Sein Westwagen besaß eingebaute Kameras in den Scheinwerfern und mit Richtmikrofonen fing

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