Eidernebel
den frühen Morgenstunden schackern die Elstern und die Raben schicken ihr lautes Krickrack hinterher.
Anna, als notorische Langschläferin, bleiben die ersten Eindrücke eines neuen Tages weitgehend verborgen. Swensen hat heute Morgen keine Lust länger zu warten und schleicht sich aus dem Bett. Auf dem Weg zum Bäcker entdeckt er im Vorgarten die ersten Winterlinge, die ihre gelben Blüten durch die Schneedecke gebohrt haben. Es ist empfindlich kalt, dem Hauptkommissar zieht es die Schultern in die Höhe. Er klappt den Mantelkragen hoch und vergräbt die Hände tief in den Taschen. Am Himmel steht kein Wölkchen, es wird ein strahlender Tag, dank dem Hochdruckgebiet ›Helga‹, wie der Wetterbericht gestern Abend nach der Tagesschau verkündet hat. Der dicke Pullover hält nicht das, was er verspricht. Die Kälte findet ihren Weg durch die grob gestrickte Wolle.
Während der Kommissar die Dorfstraße hinuntermarschiert, grübelt er über die vielen Veränderungen nach, die nach dem Umzug von Husum nach Witzwort sein Leben gründlich auf den Kopf gestellt haben. Manchmal muss er sich über sich selbst wundern, dass er so naiv gewesen war zu denken, der Entschluss, endlich mit Anna zusammenzuwohnen, würde keine Auswirkungen auf ihre Beziehung haben.
Du warst schon immer mehr Eigenbrötler, nie ein wirklicher Gemeinschaftsmensch, denkt er fröstelnd, schaut zum Dach der Kirche hinüber, das mit Raureif überzogen sehnsüchtig auf die warmen Sonnenstrahlen wartet, und betritt den vollen Bäckerladen.
»Moin, Moin, Herr Swensen!«, ruft die mollige Frau hinter dem Tresen lauthals über die Kunden hinweg, die sich fast alle neugierig zu ihm umdrehen. Dem Hauptkommissar ist die herbeigerufene Aufmerksamkeit sichtlich unangenehm.
»Moin, Moin«, antwortet er etwas verlegen.
Im Dorf weiß offensichtlich schon jeder, wer er ist, obwohl er bisher nur mit den unmittelbaren Nachbarn von Anna und der Bäckerin gesprochen hat. Ob er will oder nicht, der fremde Mann aus Husum ist in den Dorffokus geraten und die Anonymität, die selbst eine Kleinstadt bietet, gibt es wohl nicht mehr. Swensen merkt, dass ihm das nicht sonderlich gefällt. Er versucht, sich möglichst unauffällig in die Schlange der Wartenden einzureihen. Doch die Bäckerin lässt, obwohl sie erst die Leute vor ihm bedient, nicht locker.
»Und Herr Swensen, wie üblich? Drei Kürbiskernbrötchen und zwei Schusterjungen?«
Der Hauptkommissar nickt und zieht sein Portemonnaie aus der Manteltasche.
»Sind Frau Diete und Sie denn heute Abend beim Biikebrennen in Simonsberg? Das sollten Sie auf keinen Fall versäumen, ganz Witzwort wird dort sein!«
»Das kann ich leider noch nicht sagen, Frau Görtzen«, druckst Swensen, indem er kurz mit der Schulter zuckt. »Sie wissen doch, Dienst ist Dienst!«
»Ja, ja, das Verbrechen schläft nicht, nech wahr, Herr Kommissar?« Ihre dröhnende Stimme folgt ihm im Nacken bis auf die Straße.
Diese Form von Kommunikation kennt Swensen noch gut aus seiner Jugendzeit. Deshalb war er nach der Schule aus seinem Geburtsort Husum in die Großstadt nach Hamburg geflüchtet. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass eine Kleinstadt an jeder Ecke heimliche Augen und Ohren besaß. Sein Vater war seinerzeit über sein Nachtleben und seine ersten Liebschaften immer besser informiert als er selbst. Den Mief der Enge konnte er auf die Dauer nicht ertragen, in Husum kannten ihn Leute, die er selbst nicht kannte. Swensen wollte wissen, was hinter seinem Treiben stand, welchen Sinn das Ganze ergab. Er belegte einen Studienplatz im Fachbereich Philosophie.
Das war im September 1967 gewesen, zwei Monate nachdem ein Polizist den Studenten Benno Ohnesorg auf einer Demo in Berlin erschossen hatte. Die Studenten rebellierten gegen die herrschenden Verhältnisse und der Student Swensen war plötzlich mitten drin. Ein Philosophiestudium gehörte plötzlich zum Establishment. Nach einem halben Jahr hatte der Kleinstädter Swensen die Nase voll von dem steten politischen Gequatsche, das er sowieso nicht richtig verstand. Er schmiss sein Studium hin, fand sich kurze Zeit später in einem Tempelkloster in der Schweiz wieder und lauschte einem buddhistischen Meister aus Tibet. Lama Rhinto Rinpoche stellte Swensens Weltbild gründlich auf den Kopf. Nicht wir müssen die Massen verändern, war zu seiner Lehre geworden, sondern die Revolution fängt in uns selbst an.
Die Hand, mit der Swensen die Brötchentüte trägt, ist mittlerweile eiskalt.
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