Eidernebel
irgendwelche undefinierbaren Schlüssel gefunden, Peter?«
»Noch nicht. Aber das sagt nichts, ich bin nämlich hier drinnen noch nicht durch.«
*
Am Anfang der geraden Straße, die am nördlichen Außendeich von Eiderstedt entlangführt, hat es zu schneien begonnen. Die weißen Flocken wirbeln wie Daunenfedern in das Scheinwerferlicht und der Scheibenwischer hat Mühe die Frontscheibe freizuschaufeln. Die Felder am rechten Rand verschmelzen im Flockenfall langsam zu einer makellosen weißen Fläche. Swensen kommt nur noch im Schritttempo voran. Der gleichmäßige Flug der Eiskristalle, die unentwegt, fast waagerecht, in seinen Blick schneien, beruhigt seine innere Ratlosigkeit. Seit der Abfahrt von Drenkhahns heimlichen Häuschen im Augustenkoog bestürmt ihn in regelmäßigen Abständen immer wieder dieselbe Frage: Wie konnte dieser unauffällige Mann etwas so unmenschlich Schreckliches tun?
Der Hauptkommissar steuert seinen Wagen durch einen langen Bogen an Uelvesbüll vorbei. Die Kirche, die er im linken Seitenfenster sehen kann, ist im Schneegestöber gerade noch als schwarzer Schatten wahrnehmbar. Das verschwommene Bild in der Nacht ist wie ein Omen. Vor seinem Auge liegt die junge Frau vor der Kirchentür. Die Tür, die Drenkhahn offensichtlich nur deshalb nicht öffnen konnte, weil er keinen nachgemachten Schlüssel für das neue Schloss besaß.
Dieselbe Frau war auf mehreren Fotos zu sehen, die in einem versteckten Raum hingen, dessen Tür Hollmann erst nach längerer Zeit hinter einem der fahrbaren Blechschränke entdeckt hatte. Eine Wand in dieser versteckten Folterkammer war mit den schrecklichsten Fotografien gepflastert, die Swensen je in seinem Leben gesehen hatte. Drenkhahn musste die Frauen, deren Gesichter von Todesangst gezeichnet sind, während seiner Peinigungen fotografiert haben. Andere Bilder zeigten Details von mit einem Messer verursachten Wunden oder geschundene, blutverschmierte Körperteile.
Erst, als Männer des Spurensicherungsteams den sauberen Raum mit einer gelbgrünlichen Luminol-Lösung eingesprüht hatten und ihn mit UV-Lampen ableuchteten, wurde das wahre Ausmaß dieses barbarischen Schreckensszenarios sichtbar. Boden und Wände waren mit verschmierten Blutspuren übersät. Zu guter Letzt wurden dann auch noch im Inneren des Blechschranks unzählige pornografische Bilder, Videos, Ordner mit handschriftlichen Aufzeichnungen, zwei grasgrüne Packungen mit Quadroplex-KO-7-Tropfen, Anatomiebücher und mehrere Glasbehälter mit weiblichen Schamhaaren gefunden. Die Beamten wollten ihren Augen nicht trauen. Swensen waren die Tränen gekommen.
»Ihr habt nur eine klägliche Sicht auf das Böse. Die Hölle existiert nicht von ihrer eigenen Seite her, es ist der negative Geist, der sie erschafft. Die Güte und die Boshaftigkeit der Menschen kommen aus dem Geist. Natürlich existiert Gut und Böse, aber letztendlich nur auf einer relativen Ebene.«
Die Worte stürzen mit dem Taumel der Flocken in sein Ohr. Der Hauptkommissar sitzt im Hier und Jetzt hinter dem Steuer, erreicht Witzwort, fährt durch das verschneite Dorf und parkt vor seinem neuen Zuhause.
Er fühlt das erste Mal, dass er heimkommt. Im Wohnzimmer brennt noch Licht, am bläulichen Flackern erkennt er, dass Anna fernsieht. Der Kriminalist atmet noch einmal tief durch, bevor er das Haus betritt, als wolle er die Gräuel des Jahres von sich abschütteln. Er geht schnurstracks ins Bad und wäscht sich das Gesicht mit kaltem Wasser, bevor er das Wohnzimmer betritt. Anna strahlt ihn an. Er küsst sie zur Begrüßung und lässt sich neben sie aufs Sofa fallen. Auf dem Bildschirm des Fernsehers sieht der Kriminalist einen Mann, dem eine rote Gummihaube über seinen kahlgeschorenen Schädel gezogen wurde, die mit Elektroden übersät ist und in einem Wald von Kabeln steckt. Langsam wird der verdrahtete Glatzkopf in die Röhre eines Magnetresonanztomographen gefahren.
»Was siehst du da?«, fragt er knapp.
»Eine irrsinnig spannende Dokumentation auf arte«, antwortet Anna, »die wird dich bestimmt auch interessieren. Forscher messen die Gehirnaktivitätsmuster von buddhistischen Meditationsmeistern, die alle mindestens 10.000 Stunden Meditationserfahrungen haben.«
»Das ist der Vorsteher eines buddhistischen Klosters in Indien«, sagt die Sprecherstimme im Lautsprecher. »Er wird überall nur der glückliche Geshe genannt. Er praktiziert seit 30 Jahren die Meditation des Mitgefühls.«
Der Film zeigt
Weitere Kostenlose Bücher