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Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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Vorsprung das Ranglistenturnier im Lateinamerikanischen Tanz in Ludwigsburg gewonnen. Wochen harten Trainings und übermäßiger Erschöpfung lagen hinter ihr. Sie sieht sich völlig aufgekratzt in den Flur ihrer Wohnung zurückkommen. Stolz tritt sie vor den Spiegel, um noch einmal ihren roten Rock aus Stretch-Satin und die schwarze Korsage mit den Strasssteinen zu bewundern, als ihr Herz zu rasen beginnt. Was sie zu diesem Zeitpunkt nicht weiß, sie hat in der stressgeplagten Vorbereitung zum Turnier eine Lungenentzündung verschleppt. Ihre rechte Hand fasst sich ans Herz. Schmerzverzerrt wankt sie ins Wohnzimmer zum Telefon und sackt, nachdem es ihr gerade noch gelungen ist die Wohnungstür zu öffnen, direkt vor die Füße der Sanitäter. Der Arzt im Rettungswagen lässt sie sofort ins nächste Krankenhaus einweisen. Ihr Zustand bleibt 68 Stunden lang kritisch. Ihre Herzleistung sinkt auf unter 20 Prozent, Diagnose: bakteriell bedingte Herzmuskelentzündung. Trotz gründlicher Untersuchungen kann das Bakterium aber nicht gefunden werden. Glücklicherweise schlägt das Antibiotikum an. Nach vier Wochen hat sich ihr Herz erholt und die Ärzte entlassen sie aus dem Krankenhaus. In den darauf folgenden vier Monaten steigt die Herzleistung wieder auf 70 Prozent an. Der Hausarzt sagt ihr, sie sei jetzt wieder gesund. Sie geht arbeiten und fängt langsam wieder an zu trainieren. Fünf Monate später bricht sie erneut zusammen, diesmal auf der Tanzfläche im Trainingsraum. Ihr Tanztrainer schüttelt sie und spritzt ihr kaltes Wasser ins Gesicht. Die Herzleistung ist abermals auf 20 Prozent abgesackt. An der Uniklinik Kiel wird nach einer Gewebeprobe aus dem Herzmuskel das Parvovirus B19 entdeckt. Die Struktur der Herzmuskelzellen ist bereits so weit verändert, dass diese in naher Zukunft ihre Funktion nicht mehr erfüllen können. Zu guter Letzt würde ihr Herz versagen, die Ärzte raten zu einer Transplantation.
    Wieder zu Hause wird sie depressiv, vergräbt sich in ihrem Schlafzimmer, beobachtet stundenlang die Maserungen der Raufasertapete und grübelt ununterbrochen über den Sinn des Lebens nach. Am Ende kommt immer dieselbe Frage: »Warum gerade ich? Wieso ist mir das passiert?«
    Am Anfang des nächsten Jahres arbeiten die Nieren nicht mehr richtig, ihre Leberwerte verschlechtern sich rapide. Sie muss sich des Öfteren übergeben, verliert fast zehn Kilo. Ihre Herzleistung sinkt erneut stark ab. Als sie endlich innerlich der Operation zustimmen kann, bricht eine noch schlimmere Phase an. Im Krankenhaus ist sie ans Bett gefesselt, wartet auf die Erlösung, kämpft gegen den Tod an, während sie kaum noch in den Schlaf findet, die Tage und Nächte zählt und die Angst ihr dabei fast die Kehle abschnürt. Der Speiseplan beginnt alle drei Wochen von vorn, sie lässt sich zur Abwechslung ab und zu Essen vom Italiener kommen. Es wird Sommer, gutes Wetter. Die beste Zeit für Menschen, die ein neues Organ brauchen, wird hinter vorgehaltener Hand geflüstert. Die Motorradsaison beginnt. Auch wenn es noch so makaber erscheint, aber sie weiß, ein neues Herz kann nur aus einem hirntoten Körper kommen. Die sterben ja nicht, weil ich ein neues Herz brauche, versucht sie sich zu beruhigen, der Tod lauert überall und irgendwann erwischt es eben auch deinen Herzspender. Doch die Zeit vergeht. Sie ist der Verzweiflung nah.
     
    Das Bett rollt in den OP-Bereich und die Flügeltür schließt mit einem leisen Surren hinter ihr. Es ist 0.27 Uhr. Lisa Blau merkt, dass die Beruhigungstablette sie müde macht. Ihr ist kühl und die runde Lampe, die in der Mitte des Raumes über dem OP-Tisch hängt, wirft grünliches Licht an die hohen Wände. Professor Rollesch steht mit der OP-Schwester rechts neben ihr, zwei weitere Ärzte links. Am Kopfende, zwischen Computern und Monitoren weiß sie den Anästhesisten.
    »Atmen Sie ganz ruhig«, hört sie seine tiefe Stimme, und die Kunststoffränder der Sauerstoffmaske drücken um Nase und Mund. Sie spürt einen kurzen Einstich, ihre Augenlider werden unendlich schwer. Ihre Augen schließen sich fast automatisch. Dunkle Nebelschwaben dringen durch ihre Haut, treiben langsam durch ihre Innenwelt, werden von Licht getränkt und legen sich wie eine watteweiße Wolke um ihr Herz.
     
    *
     
    1.17 Uhr. Vor halben Stunde war die Information vom Entnahmearzt aus dem Klinikum Nordfriesland in Husum eingegangen, die OP ist geglückt, das Organ entnommen. Er hat das Herz geprüft und es für gut befunden.

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