Eifel-Träume
dass ich zwei, drei Spuren entdeckt habe, aber das werde ich erst wissen, wenn ich sie unter dem Mikroskop habe. Frag mich noch einmal in ein paar Tagen.«
Benecke war ein Fanatiker der Wahrheit und gab niemals auf. Äußerlich wirkte er wie ein großer Junge, schmal und hager, mochte um die vierzig sein und schien ewig gut gelaunt. Er gehörte zu jenen Wissenschaftlern, die keinerlei Beziehung zu den alten Rauschebärten an den Universitäten der Vergangenheit haben. Im Gegenteil war Benecke jemand, der mit Hingabe und Präzision seine Wissenschaft erklärte, der seinen Zuhörern ein Glas mit wimmelnden weißen Maden reichte und grinsend erläuterte: »So etwas, meine Damen und Herren, findet man auf einer Leiche! Ich untersuche diese Tierchen und kann feststellen, seit wann sie leben. Und damit erhalten wir einen Hinweis, wie lange die Leiche schon hier liegt!« Er war ein ›Dipl.-Biol. Dr. rer. medic.‹, legte aber keinen besonderen Wert darauf, mit seinem akademischen Titel angesprochen zu werden. Er hatte im Leichengarten des FBI gelernt, wurde von Kollegen in aller Welt um Rat gebeten und war ganz erstaunlich normal geblieben. In einem Schwurgerichtsprozess hatte er mal einem evangelischen Pfarrer nachgewiesen, seine Frau getötet zu haben – indem er an der Leiche eine Ameisenart entdeckte, die eigentlich nicht dorthin gehörte. Und wenn er etwas herausfand, womit niemand rechnete, konnte er sich freuen wie ein Kind.
»Du wirst wahrscheinlich in dem Zelt schlafen«, lachte ich.
»Eher nein«, grinste er. In seinem Blaumann mit den grünen Gummistiefeln sah er wie jemand aus, der gerade dabei war, eine Wasserleitung zu reparieren.
»Macht es gut, ihr zwei.«
Ich spazierte weiter. Die Luft war ein wenig drückend, und da die Temperaturen hoch lagen, würde es wahrscheinlich ein Gewitter geben. Nach der Umrundung des Buschs hockte ich mich ins Gras und starrte hinunter auf das Elternhaus der Annegret. Die Fernsehleute hatten wohl aufgegeben, niemand war mehr zu sehen.
Wieder hatte ich das Gefühl, als sei etwas Besonderes an diesem Bild. Aber der Gedanke wurde nicht klarer.
Ich setzte mich ins Auto und fuhr heimwärts.
Ich dachte an Vera und verspürte das Bedürfnis, sie zu sehen, vorsichtig zu berühren und ihr zu versichern, sie könne sich bei mir ausruhen, so lange sie wolle. Dann ärgerte ich mich über diese romantische Anwandlung und beschloss, doch in Heyroth vorbeizufahren. Es schien mir wichtig, Vera nicht auszuweichen.
Vor Emmas und Rodenstocks Haus parkte der alte, kleine Opel von Vera, der wahrscheinlich nur noch vom Rost zusammengehalten wurde.
Emma öffnete mir lächelnd die Tür. »Du kannst mit uns essen.«
»Ich habe gar keinen Hunger.«
»Aber es gibt Klopse.«
»Dann habe ich Hunger.«
Vera hockte in der Küche und sah mir entgegen. »Hallo«, sagte sie etwas zittrig.
»Grüß dich. Schön, dich zu sehen.« Ich berührte sie nicht, ich war verlegen.
»Geht rüber zu Rodenstock«, sagte Emma munter. »Hier in der Küche stört ihr nur.«
»Na denn«, murmelte ich und lief vor Vera her ins Wohnzimmer, wo Rodenstock an dem großen Tisch saß und merkwürdigerweise flüsternd telefonierte.
Er beendete das Gespräch und blickte mich an. »Also, irgendwie passt mir das alles ja gar nicht in die Menge Kram, die wir vor uns haben. Gerade hat Rudi Latten angerufen. Da steht eine junge Dame vor deiner Tür in Brück und behauptet, sie sei deine Tochter.«
»Sieh mal einer an!«, rief Vera hinter mir hell.
ZWEITES KAPITEL
Ich weiß nicht mehr, was ich antwortete, ob ich überhaupt irgendetwas sagte. Es scheint mir eher so, als habe ich ausgesehen wie ein Weihnachtskarpfen, überrascht und dümmlich. Ich weiß, dass ich mich umdrehte, an Vera vorbeiging und Rodenstocks Haus verließ. Und ich erinnere mich deutlich an das Gefühl vollkommener Hilflosigkeit.
Was tust du, wenn plötzlich ein Stück deiner Vergangenheit auftaucht, an die du nicht gern zurückdenkst, die du mit aller Kraft verdrängt hast? Du musst es annehmen, du kannst nicht ausweichen. Und damit machst du einer großen Reihe von Träumen Platz, die dein Leben einmal beherrscht haben und von denen du die Gewissheit hast, dass sie eine grandiose Selbsttäuschung waren.
Ich vergaß meinen Hund, stieg ins Auto und bewältigte die zwei Kilometer in einem tranceähnlichen Zustand. Ich legte mir Sätze zurecht wie: »Sieh mal an, das ist aber eine Überraschung!« oder: »Nicht zu fassen!« oder gar das elitär
Weitere Kostenlose Bücher