Eifler Zorn
Kleidung, mit der sie sonntags den
Gottesdienst besuchen.
»Ich kann
dich nicht mitnehmen. Es wäre zu schwer, wenn wir zu zweit gehen.«
»Wohin?«
»Sei
bitte nicht böse, dass ich dir nichts gesagt hab! Ich weiß, du bist mein
Freund, aber …«
»Das gibt
Ärger.«
»Nein,
nein. Sie sind noch auf der Kirmes. Sie werden es nicht merken. Die Wache in
unserem Schlafsaal ist eingeschlafen, ich habe meine Decken so gerollt, dass es
aussieht, als ob ich drinliege, und morgen früh bin ich schon weit genug weg«,
rasselt Ludwig atemlos herunter und packt Paul am Ärmel.
»Die
Wache schläft nicht mehr.«
»Was?«
Ludwig beugt sich über das Geländer, schaut nach oben und zieht sich wieder in
die Schatten zurück. »So ein Mist. Schnell. Geh wieder rauf, damit er mich nicht
entdeckt.« Er packt Paul an der Schulter, dreht ihn um und will ihn die Treppe
hinaufschieben. »Los, mach schon.«
Paul
rüttelt seinen Arm aus Ludwigs Griff. »Ich bin die Wache.«
»Mach
keine Witze und geh ins Bett, Paul. Ich verspreche dir, ich melde mich, wenn
ich angekommen bin. Ich schreibe dir.«
»Wenn
heute Nacht nichts passiert und ich meine Aufgabe gut erledige, nehmen sie mich
vielleicht als richtigen Lehrling.«
Ludwig
beißt sich auf die Lippe, zieht seine Mütze, die er hinten in der Hosentasche zusammengerollt
eingesteckt hatte, hervor und befingert sie. Langsam bewegt er sich auf den
Treppenabsatz zu und sucht mit der Fußspitze die nächste Stufe auf dem Weg nach
unten. Er schaut erst zu Boden, dann Paul offen ins Gesicht. »Ich halte es hier
nicht mehr aus.«
»Ludwig!«,
sagt Paul drohend und will ihn festhalten. »Ich werde dich nicht weglassen.«
»Lass
mich los!« Ludwig schlägt nach Pauls Hand.
»Verdammt!
Ich habe es fast geschafft und werde mir von dir nicht alles verderben lassen.«
Keiner
von beiden achtet mehr darauf, leise zu sein. Für einen kurzen Moment stehen
sie einander gegenüber, weichen keinen Millimeter, zwei Kampfhähne. Dann
poltert Ludwig die Treppe hinunter und rennt durch den Flur zur Hintertür, er
entriegelt sie und stürzt auf den Hof. Paul heftet sich an seine Fersen, nimmt
zwei Stufen auf einmal, während er den weiten Stoff seines Nachthemdes
hochrafft, um nicht zu stolpern. Er hört Ludwigs Schritte quer über den Platz,
weiß, dass er zu der kleinen Tür im Zaun will, der das Grundstück zur Wiese am
Bach abgrenzt. Steine bohren sich in seine nackten Füße. Er rennt schneller und
schneller, bis ihn etwas am Kinn trifft, das ihn stoppt und zu Boden schickt.
Er
schmeckt Blut. Auf den Lippen und in seinem Mund, der ganz trocken ist. Paul versucht
zu schlucken und spürt es im ganzen Kopf. Dicht unter der Stirn, am Hinterkopf
und an dem lockeren Zahn, der ihn seit Tagen quält und der den kreisenden
Bewegungen seiner Zunge folgt. Er schlägt die Augen auf. Über ihm die
Dachschräge. Er blinzelt sich in die Wirklichkeit des Schlafsaals, fischt nach
Erinnerungsfetzen, setzt sich, als er sie schließlich findet, suchend auf und
schaut in Ludwigs grinsendes Gesicht.
»Ich
konnte dich doch nicht so liegen lassen. Es fing an zu regnen.«
»Du
wolltest doch …« Weiter kommt er nicht, denn der Erzieher betritt den
Schlafsaal, schlägt eine Glocke und wartet im Türrahmen darauf, dass alle
aufstehen und im Eilschritt die Waschräume aufsuchen.
»Es war
sowieso eine blöde Idee«, nuschelt Ludwig durch die Borsten seiner Zahnbürste,
während sie über die Wasserrinne gebeugt stehen. »Ich wäre sicher nicht weit
gekommen. Die Genossen in Elberfeld werden noch eine Weile ohne mich auskommen
müssen.«
»Gestern
Abend hörte sich das aber ganz anders an.«
»Ach
was.« Ludwig stößt Paul seinen Ellenbogen in die Seite und lächelt. Dann wird
er ernst. »Einen Freund verrät man nicht. Nie.«
***
Der Garten hinter ihrem
Haus lag im Dämmerlicht, das aus den Wohnungen unter und über ihr auf den Rasen
fiel. Judith öffnete die Balkontür und sog die kalte Luft ein. Hier war es
still, obwohl nur wenige hundert Meter entfernt die Reuterstraße, eine der
Haupteinfahrtsrouten Bonns, verlief. An der linken Seite schraubte sich eine
Tanne dicht am Haus empor. Rechts begrenzte eine lange Ziegelmauer das
Grundstück, deren obere Kante nahtlos an den Boden von Judiths Balkon
anschloss. Dazwischen lag kahle Wiese und am Ende ein Haufen Rasenschnitt,
versteckt hinter einem Busch, dessen dürre, blattlose Äste den trostlosen
Anblick auf das braune, faulende Grün nicht verdecken konnten. Es
Weitere Kostenlose Bücher