Eifler Zorn
Herzlinie.
Wie war das noch? Sie versuchte sich zu erinnern. Ein langes Leben? Beruflicher
Erfolg? Die große Liebe? Aus der Linken die Anlagen, aus der Rechten das, was
man draus gemacht hatte. Die drei Einkerbungen unter dem kleinen Finger. Was
bedeuteten sie noch einmal? Ehe? Kinder? Bianca lachte bitter auf. Budenzauber.
Sie stand auf, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand ihres Wohncontainers und
betrachtete die Hände, die sie gestern geschlagen hatten, aus der Entfernung.
Blut klebte an den Rändern. Fleischfasern. Knochen. Sie fasste sich an den
Unterkiefer, öffnete und schloss ihren Mund. Es tat immer noch weh. Bei jeder
Bewegung, wenn sie sprach oder die Stelle berührte. Der hintere Backenzahn
wackelte, und sie würde zu einem Zahnarzt gehen müssen, wenn sie ihn nicht
verlieren wollte. Aber der würde Fragen stellen. Nach dem Blau und Grün und
Violett unter ihrer Haut. Und nach dem, der die Verantwortung dafür trug.
Sie hatte die Hände an sich
genommen, am Rand der Grube gestanden und hinuntergeschaut, bis es hell wurde.
Ohne Regung. Dann war sie in ihren Wohncontainer gekrochen wie in eine Höhle.
Der Bauleiter war gekommen, hatte das Unübersehbare gesehen und gemeldet.
Wieder waren sie wie Termiten über den Boden gekrochen. Weiße, blinde
Gestalten, auf der Suche nach Spuren, die sie nur in die Irre führen würden.
Als die Kommissarin
schließlich gekommen war und sie in ihrem Bagger entdeckt hatte, hatte sie
endlich geweint.
***
Surren. Schwarze
Dunkelheit. Kälte. Ich schlug die Augen auf, aber es blieb dunkel. Feuchter
Staub auf meiner Zunge, auf meiner Haut. Ich lag auf dem Rücken. Der Boden
unter mir war hart und kalt. Atmen, Finger bewegen, Hände, Arme. Etwas rollte
von meiner Jacke zu Boden. Der Stollen. Ich war in dem Stollen. Vorsichtig hob
ich den Kopf, drehte ihn von links nach rechts und wieder zurück. Eine Stelle
hinter meinem Ohr schmerzte, und als ich hinlangte, fasste ich in feuchte,
klebrige Haare. Blut, erkannte ich, als ich daran roch und leckte. Aber so wie
es sich anfühlte, war es nur eine Platzwunde. Die Beine gehorchten. Alles dran.
Nichts gebrochen. Vorsichtig schob ich die kleineren Brocken von meiner Hose,
suchte festen Stand und stellte mich aufrecht hin. Bunte Punkte tanzten vor
meinen Augen durch das Dunkel, und das Surren und Summen in meinen Ohren wurde
stärker. Jetzt bloß nicht ohnmächtig werden. Ich streckte die Arme aus, tastete
nach vorn, nach hinten, zur Seite. Nach oben. Schwankte. Nichts. Ich musste
mich ungefähr in der Mitte des Stollens befinden.
»Sandra?« Ich hörte mich
selbst wie unter einer Glocke. Leise. Weit entfernt. Als ob ich Watte in meine
Ohren gestopft und eine dicke Mütze darübergezogen hätte. Mir wurde
schwindelig, und ich musste mich setzen. Langsam atmen. Ein und aus. Meine
Muskeln wieder spüren. Hoch auf die Knie. Atmen. Ich brauchte Licht. Musste
sehen, was um mich herum geschehen war. Ich wusste nicht, wie lange ich
bewusstlos dagelegen hatte. War es schon wieder Tag? Noch Nacht? Oder bereits
die nächste Nacht? Mein Handy fiel mir ein. Dann wäre das Gerät zumindest für
eine Sache gut. »Kein Netz.« Der Schriftzug in der linken oberen Ecke des
Displays wunderte mich nicht. Meterdicker Schiefer über mir verhinderte den
Empfang, der schon vor dem Stollen kaum vorhanden gewesen war. Darunter, in
großen Zahlen, Uhrzeit und Datum. Drei Stunden und fünfzehn Minuten nach
Mitternacht, der richtige Tag. Also hatte ich nicht allzu lange dagelegen.
Diese Taschenlampenfunktion, die Henrike mir auf das Telefon gespielt hatte,
hoffentlich funktionierte sie. Ich tippte mit dem Finger auf das kleine
rechteckige Symbol und dann auf den Anschalter. Grelles, kaltes Licht flammte auf.
Staub lag wie Nebel in der Luft. Die flirrenden Körner reflektierten den
Lichtstrahl, blendeten mich und ließen die bunten Punkte wieder aufflackern.
Ich blinzelte, kniff die Augen zusammen und versuchte, hinter dem Nebel etwas
zu erkennen. »Sandra?«, rief ich erneut und hörte meine eigene Stimme nicht.
Ich richtete die Lampe nach hinten. Im indirekten Dämmerschein ging es besser.
Da, wo ich den Eingang des Stollens vermutete, lag ein großer Haufen
heruntergebrochener Gesteinsstücke. Die Decke direkt darüber erschien mir
deutlich höher als vorher, die Schieferstücke mussten von dort stammen. Ich
wandte mich um, wie es schien, zu hastig, denn der Schwindel kehrte zurück,
erwischte mich mit voller Wucht und schickte mich erneut zu Boden.
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