Eifler Zorn
versetzte mir einen Stich, als
mir klar wurde, wie wenig ich über Henrikes Leben wusste. Nicht weil sie es
nicht mit mir teilen wollte, selbst das konnte ich nicht mit Bestimmtheit
sagen, sondern weil ich mich nicht richtig darum bemüht hatte. Sie wohnte zwar
bei mir, wir aßen zusammen, und ich kümmerte mich darum, dass sie anständige
Kleidung trug oder das, was sie dafür hielt. Aber war ich für sie eine
Vertrauensperson? Jemand, an den sie sich wenden konnte mit den Fragen, die
eine Dreizehnjährige hatte? Oder war es vielmehr so, dass ich die Prioritäten,
die ich in meinem Leben bisher gesetzt hatte, nicht an die neue Situation
angepasst hatte? Nicht hatte anpassen wollen? Ich hatte nie Kinder gewollt.
Nicht mit meinem Ehemann, nicht als Steffen ein Haus in Gemünd gekauft und es
mir als Nest für eine mögliche Familie präsentiert hatte. Mein Beruf hatte
immer an erster Stelle gestanden, und es fand sich nie der richtige Zeitpunkt.
Als es zu spät war und meine sprichwörtliche biologische Uhr aufgehört hatte zu
ticken, war ich erleichtert, keine Rechtfertigungen mehr vorbringen zu müssen,
in welche Richtung auch immer, sogar mir selbst gegenüber. Meine Hätschel- und
Hütebedürfnisse hatte ich an meinem Kater ausgetobt.
Aber Henrike war keine
Katze, die geduldig zu Hause darauf wartete, bis ich vom Dienst zurückkam, müde
und abgespannt, die sich mit ein paar Streicheleinheiten abspeisen ließ. Sie
forderte meinen Einsatz. Nicht offensiv, sondern schlicht durch ihr Dasein. Das
begriff ich erst langsam. Ebenso, dass sie keine zu klein geratene WG -Mitbewohnerin war, auch wenn sie gern so tat, als ob
sie schon groß wäre. Sie war ein Kind. Für das ich Verantwortung übernommen
hatte. Sie brauchte Liebe. Zuwendung. Reibungsfläche. Diese Aufgabe forderte
von mir Erwachsensein, und ich versagte auf der ganzen Linie. Zeit mit ihr
verbringen, zuhören, da sein. Das zählte. Nichts anderes. Wenn sie sich jetzt
von mir distanzierte oder sogar weglief und verschwand, hatte ich das zu einem
Großteil mir selbst zuzuschreiben.
Die Liste lag unter ihrer
Schreibtischunterlage. Es dauerte weitere zwanzig Minuten, bis ich alle Nummern
vergeblich durchtelefoniert und mir von denen, die ich erreichte, die
Zusicherung, sich sofort zu melden, wenn Henrike von sich hören ließ, eingeholt
hatte. Kurz überlegte ich, Hermann nach ihr zu fragen, verwarf den Gedanken
aber schnell wieder. Wenn sie da wäre, hätte er mich informiert, damit ich mir
keine Sorgen machte. Das Gleiche galt für Amalie. Und aufschrecken wollte ich
die beiden nicht.
Unter einem Haufen Wäsche
fand ich das zweite Mobilteil unseres Telefons, nach dem ich schon seit einigen
Tagen gesucht hatte, und probierte die Wahlwiederholung, eine Gemünder Nummer,
während der ganze Berg aus muffiger Kleidung ins Rutschen geriet und auf den
Boden glitt.
»Kobler.« Sandra. Sie klang
verschlafen. Heiser.
»Bitte entschuldige, dass
ich bei euch anrufe, aber vielleicht kannst du mir helfen?«, stammelte ich in
den Hörer. Auf meinen ersten Anruf beim Durchtelefonieren der Liste hatte sie
nicht reagiert. »Ist Henrike bei euch?« Ich sammelte die Kleidungsstücke wieder
auf. Aus einer Hosentasche fiel ein kleiner Zettel.
»Nein?«
Wieso klang das wie eine
Frage?
»Sie ist nicht nach Hause
gekommen. Ich mache mir große Sorgen.« Ich wendete das Papier. Eine
Busfahrkarte des Aachener Verkehrsverbundes. Ziel Erkensruhr. Abgestempelt am
letzten Wochenende. »Ist Luisa denn da?«
»Warte.« Ich hörte, wie sie
den Hörer niederlegte. Schritte entfernten sich. Nach ein paar Sekunden kam sie
wieder. »Luisa ist in ihrem Zimmer und schläft. Thomas hat ihr auch etwas
gegeben, zur Beruhigung. Wir sind beide fertig mit den Nerven.«
»Ja. Es tut mir leid,
Sandra. Sehr leid. Aber ich dachte, vielleicht hätte Luisa mir etwas sagen
können.«
»Ich werde sie fragen,
sobald sie wach ist.«
»Danke.« Ich wendete die
Fahrkarte hin und her. »Sandra?«
»Ja?«
»Weißt du etwas davon, dass
die Mädchen mit dem Bus nach Erkensruhr gefahren sind?«
»Luisa hat etwas von einem
Schulausflug erzählt. Aber das ist schon länger her. Zum Fledermausstollen.«
»Nein, jetzt kürzlich.«
»Meinst du, Henrike könnte
dort sein?«
»Ach nein. Was sollte sie da
wollen?« Unschlüssig setzte ich mich auf Henrikes Bett.
»Vielleicht solltest du die
Kollegen informieren, dass sie mal hinfahren und nachsehen?« Sandra klang nun
wacher.
»Nein.« Ich stand auf. »Ich
fahre
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