Eifler Zorn
Henrikes Modelle in Gruppen kopfüber von
der Decke.
»Weißt du, wie weit es da
noch ins Innere geht?«, fragte ich, während ich mit ausgestrecktem Arm in eine
dunkle Ecke zeigte, aus der nun Fledermäuse geflogen kamen, und drehte mich zu
Sandra um. Sie riss den Arm hoch. Es knallte. Der Schiefer ächzte. Steine
prasselten, Platten und größere Brocken stürzten von der Decke. Ich duckte
mich. Hechtete nach vorn, weiter in das Innere des Stollens, bedeckte Gesicht
und Kopf mit meinen Armen und versuchte, der Lawine aus Stein, Staub und aufgescheuchten
Fledermäusen zu entkommen. Etwas traf mich am Kopf, aber da war kein Schmerz.
Nur ein Surren in meinen Ohren.
ZEHN
Paul liegt mit offenen Augen auf seinem Bett, kämpft gegen die
Müdigkeit an und darum, seine Aufgabe zu erfüllen. Er darf nicht einschlafen
heute Nacht. Er ist die Wache. An jedem Abend wird ein anderer Junge mit dem
Wachdienst betraut, muss den Schlaf der anderen beobachten, ohne dass sie es
merken. Niemand darf wissen, wer den Dienst tut, damit jeder auf der Hut ist.
Heute ist ein besonders wichtiger Abend, mit einer noch größeren Verantwortung
als an den anderen, weil die Meister auf der Kirmesfeier sind und erst sehr
spät heimkehren werden. Bis auf einige wenige ältere Jungen und die Frau des
Direktors ist niemand im Haus. Nur die Vertrauenswürdigsten bekommen die
Aufgabe übertragen, und Paul ist einer von ihnen.
Er liegt
im Bett und lächelt. Wenn er die Augen schließt, steht das Bild der Mutter
genauso blass vor ihm wie Emmas Gesicht, als ob sie beide tot wären. Die beiden
kleinen Geschwister sind nur noch schemenhafte Umrisse, ohne Kontur. Er hat
nichts mehr von ihnen gehört, weiß nicht einmal, ob der Brief, den er ihnen
geschrieben hat, angekommen ist oder überhaupt abgeschickt wurde. Eine Antwort
hat er nie erhalten. Es ist Sommer, und das Licht vor der kleinen Dachluke
überzieht den Schlafsaal mit einem milchigen Grauschleier. Er starrt auf einen
dunklen Fleck auf der grauen Wand. Hier hat er heute Morgen eine Mücke
erschlagen, die ihm, vollgesogen mit seinem und dem Blut der anderen, nicht
entkommen konnte. Er ist schnell. Nicht nur bei der Mückenjagd. Die Arbeit
fällt ihm leicht. Er versteht, wie das Holz arbeitet und wie man es bearbeiten
muss. Er kann sich vorstellen, irgendwann ein Zimmermann zu werden oder ein
Schreiner. Auch wenn aus solchen wie ihm nur Gehilfen werden sollen, will er
Geselle werden, vielleicht sogar ein Meister, wenn er genug Geld verdient und
die Meisterschule bezahlen kann. Er sieht sich in einem Kittel die Reihen der
Werkbänke entlanggehen, sieht andere Jungen, die zu ihm aufsehen und auf sein
Nicken warten. Er könnte auch auf einer Baustelle arbeiten, auf dem Dach, und
mit schweren Balken den First setzen. Oder Möbel bauen, nach seinen Ideen.
Ein
Geräusch schreckt ihn aus seinen Träumen, er zuckt zusammen und reißt die Augen
auf. Er schüttelt sich, dann setzt er sich auf und schaut sich um. Alles ist
ruhig. Alle schlafen. Auf jedem Bett Decken und darunter die zusammengerollten
Körper. Paul gähnt. Er darf sich nicht wieder hinlegen, sonst wird er sicher
einschlafen. Er rutscht in seinem Bett nach hinten, bis er mit dem Rücken am
niedrigen Kopfende anstößt. Unter der Dachschräge muss er den Kopf einziehen.
Es ist unbequem, und der Druck der harten Wand hält ihn wach. Wieder hört er
ein Geräusch. Es kommt nicht aus dem Schlafsaal. Er lauscht. Ein Knarren,
Knacken. Die Treppe!
In einer
fließenden Bewegung schlägt er die Decke zurück, schwingt die Beine aus dem
Bett und steht auf. Er schwankt, als er leise zur Tür schleicht. Sie ist nur
angelehnt, obwohl sie verschlossen sein müsste. Er dreht sich um, blinzelt,
schaut jedes Bett genau an und kann kein leeres entdecken. Trotzdem, denkt er
und öffnet die Tür. Im Flur ist es dunkler als im Schlafsaal, aber er will das
Licht nicht anmachen. Er horcht noch einmal. Leises Atmen?
Durch die
Schatten schleicht er nach unten, die erste Treppe hinunter bis zum Absatz.
Dann die zweite.
»Mensch,
Paul, du bist es.« Ludwig löst sich aus dem Dunkel einer Türnische, in der er
sich versteckt hat. »Mann, hast du mir einen Schreck eingejagt.« Er flüstert,
aber trotzdem ist ihm die Erleichterung anzumerken.
»Was tust
du hier?«
»Sie
kommen erst in ein paar Stunden zurück. Bis dahin bin ich über alle Berge.«
»Du
willst weg?« Erst jetzt begreift Paul, dass Ludwig nicht sein Nachthemd, sondern
Schuhe, Hose und Hemd trägt, die
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