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Eifler Zorn

Eifler Zorn

Titel: Eifler Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Pistor
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sie sich entscheiden konnte,
irgendwann entscheiden musste? Oder ging es erst einmal darum, ihre eigenen
Werte zu finden, ihre Gedanken zu filtern, zu bündeln, sich von Übernommenem
freizuschwimmen und dann ihren persönlichen Weg einzuschlagen? Sie löste die
Fingerspitzen von der Mauer und vertraute sich erneut dem schmalen Steg aus
Ziegelsteinen an. Jetzt fiel mehr Licht auf das, was vor ihr lag. Als sie über
die Brüstung zurück auf den Balkon kletterte, stand Kai in unveränderter
Haltung in der Türöffnung. Seine Zigarette war nur noch ein kleiner, kalter
Stumpen.
    »Hast du dein Maiskorn gefunden?«
    »Ja. Und ausgespuckt.«
Judith lehnte im Hineingehen ihren Kopf an seine Schulter. »Es wird einem
manches klarer, so mit ein bisschen Abstand.« Sie spürte, wie er nickte.
    »Was willst du jetzt tun?«
Er legte die Hand unter ihr Kinn, hob ihren Kopf und küsste sie.
    »Mein Ziel verfolgen.«
    »Und das wäre?«
    »Meine Arbeit auf meine Art
zu machen. Sie gut zu machen.«
    »Ist das eine Frage oder
eine Ansage?« Er ließ seine Hände unter ihr T-Shirt gleiten und streichelte
ihre Rückenmuskeln von den Schulterblättern bis zur Taille hinunter.
    »Ansage.« Sie entwand sich
ihm und ging zum Schreibtisch. Ihr Laptop surrte leise, als sie ihn hochfuhr.
»Ich habe keine Lust, mich von Sauerbier weiter vorführen zu lassen. Wenn er
recht hat und es gibt keinen Zusammenhang, will ich auch diesen Umstand
bewiesen sehen.« Sie gab die Worte »Gemünd« und »Abriss« in die Suchmaschine
ein. Die erste Seite brachte keine Treffer, auf der zweiten stieß sie auf einen
Artikel der lokalen Presse aus dem September 2010, der den Beschluss zum Abriss
des Gebäudes zum Thema hatte.
    »Das Gebäude hieß
›Anwesen‹«, sagte sie über die Schulter zu Kai, der sich wieder auf das Sofa
hatte fallen lassen und ein Teil seines Modellbootes kritisch beäugte. »Hier
steht, das Gelände soll der daneben liegenden Bierdeckeldruckerei zugeschlagen
werden. Der Besitzer hat es gekauft.«
    Kai legte das Bootsteil auf
den Tisch zurück, stand auf und trat hinter sie. »Lass uns ins Bett gehen.« Er
massierte ihre Schultern.
    »Heissa – da wohnte aber
eine Menge potenzieller Kundschaft im Laufe der Jahrzehnte.« Judith scrollte
weiter nach unten. »Guck«, sie nahm eine seiner Hände und hielt sie auf ihrer
Schulter fest, mit der anderen zeigte sie auf das Pressefoto, »so hat es ausgesehen.«
    »Hmm. Schönes Haus.« Er
fasste nach ihrer Hand und versuchte, sie vom Computer wegzuziehen.
    »›Sozialer Brennpunkt‹
schreiben sie hier.« Judith schüttelte den Kopf und beugte sich näher zum
Bildschirm. »›Heim für Asylbewerber‹, ›preiswerte städtische Wohnungen‹.« Sie
griff zu Stift und Papier, machte sich Notizen.
    »Judith?«
    »Ja?« Sie schaute über die
Schulter zu ihm hinüber. Er zog sich sein T-Shirt über den Kopf, schlug es aus
und hängte es sorgfältig über die Sofalehne.
    »Ich geh schlafen. Lass dich
nicht weiter stören.« Er verharrte noch einen Moment, und sie wusste, dass er
auf eine Reaktion von ihr wartete, die ihn von seinem Vorhaben abbringen
könnte. Er war nicht mehr so dünn, wie zu dem Zeitpunkt, als sie sich
kennengelernt hatten, aber trotzdem erschrak sie bei dem Anblick seiner Rippen,
die sich unter der Haut abzeichneten. Hatte er heute außer dem Abendessen, für
das sie eingekauft und gekocht hatte, überhaupt etwas gegessen? Vermutlich
nicht. Judith legte den Stift zur Seite. Seine Gesundheit lag nicht in ihrer
Verantwortung, dennoch konnte sie sich dem nicht entziehen. Sie hatte Angst um
ihn. Und durfte sich selbst dabei nicht vergessen. Es stimmte nicht, was sie
eben gesagt hatte. Sie hatte ihr Maiskorn nicht ausgespuckt. Vielleicht ging
das auch gar nicht. Ausspucken. Vielleicht lag das Geheimnis darin, es so lange
im Mund hin und her zu bewegen, bis man die Stelle fand, an der es aufzubrechen
war.
    ***
    Die Hände lagen vor ihr
auf dem Tisch. Kräftige Finger mit schmalen, beinahe femininen Nägeln, unter
denen nun Dreck hing. Eine Fliege landete auf dem linken Daumen, krabbelte über
den Handrücken, verharrte und putzte ihre schillernden Flügel. Sie widerstand
der Versuchung, sie zu verscheuchen, beobachtete und hielt aus. Sie wäre gerne
aufgestanden und hätte eine Nagelfeile geholt, um den Schmutz unter jedem einzelnen
Nagel hervorzuholen. Stattdessen drehte sie die Rechte um und strich behutsam
über die Innenfläche. Folgte den Furchen. Lebenslinie. Kopflinie.

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