Eifler Zorn
war der
typische Mietshausgarten. Pflegeleicht, von den Bewohnern des Erdgeschosses in
Ordnung gehalten, ohne sie zu überfordern. Einmal in der Woche den Rasen zu
mähen, reichte vollkommen aus. Sie musste an die Lavendelbeete im Hinterhof
ihrer Mutter denken, die abgezirkelten, geometrisch angelegten Wege, die sie
jedes Mal an ein Kloster erinnerten, wenn sie ihre Eltern in der neuen Wohnung
besuchte. Kieselsteine, Ziegelwege, Lavendel. Dazwischen blutrote Kletterrosen
an alten Eisenobelisken. Dieser Garten war eines der Kriterien gewesen, die
ihre Eltern dazu bewogen hatten, die Wohnung zu kaufen. Eine Miniaturausgabe
ihres bisherigen Gartens. Das Haus, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte,
war ihnen endgültig zu groß geworden, nachdem auch die beiden jüngeren
Schwestern ausgezogen waren und sich in der Welt verteilt hatten, die eine war
nach Amerika gegangen, wo sie mit Mann und Kind lebte, die andere in die
Schweiz. Seitdem trafen sie sich nur selten. Weder untereinander noch bei den
Eltern. Keine von ihnen fühlte sich wirklich wohl in der kühlen Atmosphäre
dort, die die Strenge ihrer Eltern sich selbst und den Kindern gegenüber
widerspiegelte, keine von ihnen fühlte sich mit den anderen verbunden. Ordnung
und Disziplin, Pflichtbewusstsein und korrektes Verhalten waren die
Grundpfeiler ihrer Erziehung. Für Phantasie war da nicht viel Platz gewesen.
Judith hüpfte, einem Impuls
folgend, über die Schwelle wie ein Kind, das im Spiel einen kleinen Bach
überquert, ging zum Geländer und beugte sich darüber. Es war nicht sehr hoch,
aber hoch genug, dass sie sich verletzen würde, wenn sie fiel. Vorsichtig schob
sie ein Bein hinüber, bis sie rittlings auf der Brüstung saß. Dann streckte sie
die Zehen, suchte Halt und verlagerte ihr Gewicht, bis sie die Mauer unter den
Füßen spürte. Es war leichter als erwartet.
»Was machst du da?«, fragte
Kai von der Balkontür.
»Ich muss etwas
ausprobieren«, erwiderte sie und streckte die Arme zu beiden Seiten aus. Suchte
ihr Gleichgewicht, ohne sich nach ihm umzudrehen.
»Hast du keine Angst zu
fallen?«
»Doch.« Sie hob einen Fuß
und setzte ihn vor den anderen.
»Es ist tief.«
»Ja.«
»Wie weit willst du gehen?«
»Bis ich umkehren muss.« Sie
machte einen Schritt. Dann noch einen. Und noch einen. Unter ihren Sohlen
knirschte es. Je mehr sie sich vom Haus entfernte, umso schlechter konnte sie
den Mauerrist erkennen. Sie tastete sich mit den Füßen vorwärts. Ging langsam
weiter. Stetig. Mit jedem Aufsetzen und Abrollen sicherer. Am Ende der Mauer
legte sie die Fingerspitzen an die Brandmauer des Nachbarhauses, das den Garten
nach hinten hin abschloss, und drehte sich vorsichtig um. Kai lehnte in der
offenen Balkontür, eine Hand in der Hosentasche versenkt, mit der anderen hielt
er eine Zigarette. Er beobachtete sie und winkte ihr mit einer knappen Bewegung
zu, als er sah, dass sie zu ihm hinüberschaute. In vielen Fenstern des Hauses
brannte noch Licht, obwohl es beinahe Mitternacht war. Sie und ihre Nachbarn
hatten alle keine Gardinen oder Rollos angebracht. Es konnte auch so niemand in
ihre Wohnungen schauen, wenn er nicht, wie sie gerade, am äußersten Ende der
Brandmauer stand. Das Ehepaar im zweiten Stock saß zusammen im Wohnzimmer und
schaute aus müden Augen auf den laufenden Fernseher. Eines der drei Kinder lag
neben der Frau auf dem Sofa, eingeschlafen und den Kopf auf den Schoß der
Mutter gebettet. Sie streichelte geistesabwesend durch die Haare des Kindes.
Judith lächelte. Die alleinstehende Frau in der Wohnung darüber musste ungefähr
in Inas Alter sein. Sehr gepflegt und auf der Straße immer im Hosenanzug oder
Businesskostüm. Judith war überrascht, sie in einem ausgeleierten Jogginganzug
mit Chipstüte vor sich zu sehen, in die sie immer wieder blind griff, während
sie die Seiten des vor ihr liegenden Buches umblätterte. Ganz unten saß ein
Mann an einem Computerbildschirm und hämmerte auf seine Tastatur ein. Ab und an
hielt er inne, notierte etwas auf einem Blatt, blätterte in einem der unzähligen
Bücher, die um ihn herum auf dem Tisch verteilt lagen, und schrieb dann weiter.
Er war Schriftsteller, Kriminalromane, hatte Kai ihr erzählt, der mit ihm ins
Gespräch gekommen und auf ein Bier ins »Wespennest« an der Ecke gegangen war.
Netter Typ, wie er lakonisch gemeint hatte.
Hatte sie hier,
aufgeschlagen wie in einem Bilderbuch, die Perspektiven vor Augen, die ihre
Zukunft ihr bot? Einen Spiegel dessen, wofür
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