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Ein Abend im Club

Ein Abend im Club

Titel: Ein Abend im Club Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Gailly
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gemildert jedoch von dem hellen Rot der Schirme der kleinen Tischlämpchen?
    Ich weiß es nicht. Er konnte es mir nicht richtig sagen. Ich war völlig durch den Wind, sagte er. Wie ein Kranker ließ er sich vom Ingenieur zu einem Tisch führen. Er blickte nicht nach vorn. Er blickte seitwärts auf die leere Bühne. Gar nicht leere Bühne. Nur menschenleer. Leer von ihm, und das würde sie bleiben.
    Eine Bühne voller Instrumente. Nicht groß, und von einem Haufen Instrumenten ausgefüllt. Klein, und von nur drei Instrumenten ausgefüllt. Piano, Kontrabass, Schlagzeug. In Simons Augen die Schönstmögliche Formation.
    Ein herrlicher schwarzer Stutzflügel. Ein Kontrabass, der schon viele Stöße abbekommen hatte, sein rötlicher Lack war überall abgesprungen. Ein komplettes Schlagzeug, Becken und mit grünen Pailletten verzierte Trommeln.
    Simon blieb stehen, er sah den Flügel an.
    Er dachte erst ans Hinsetzen, als der Ingenieur ihn fragte, was er trinken wolle. Der Barkeeper stand da und wartete. Eine Gestalt in Schwarz-Weiß. Keinen Alkohol, hätte der gut abgerichtete Simon fast geantwortet, auf keinen Fall Alkohol, nie wieder Alkohol, aber dann kam er zu sich wie jemand nach einer Gehirnwäsche und bestellte Wodka mit Eis.
    Auf dem Gesicht des Ingenieurs drückte sich so etwas wie Genugtuung aus. Ich habe ihm wirklich jeden Gefallen getan, dachte er. Simon schwieg. Schon ein wenig berauscht, noch bevor er getrunken hatte, betrachtete er das Piano. Das ist der Wein vom Abendessen, sagte er sich. Für die anderen Gäste hatte er keinen Blick übrig. Etwa zehn oder zwölf an den Nachbartischen.
    Alle warteten geduldig. Fast schweigend, nur manchmal ein leises Wort wechselnd. Der Ingenieur hingegen sah sich die Leute an, dann Simon, dann die Leute, lächelnd, dann wieder Simon, der sich fragte: Was red ich bloß mit ihm, bis die Getränke kommen?
    Um 21.50 Uhr trafen die drei Musiker ein. Sie kommen zu früh, dachte Simon, umso besser. Himmel, sind die jung. Da sind sie, sagte der Ingenieur. Das seh ich, dachte Simon.
    Entspannt und noch ein bisschen witzelnd, bevor sie anfingen. Das wenigstens hatte sich nicht geändert. Dieser Hang, ständig Witze zu reißen. Die ewigen geschmacklosen Witze der Jazzmusiker.
    Sie waren also zu dritt. Ein Klaviertrio. In Simons Augen die Schönstmögliche Formation. Drei völlig verschieden aussehende Jungs. Der Pianist: ein schöner, großer junger Mann mit Brille, die ihm das Aussehen eines amerikanischen Kernphysik-Nobelpreisträgers verlieh. Der Bassist: ebenfalls groß, aber ein verrückter Kerl mit rasiertem Blondschädel. Der Schlagzeuger: sehr dunkelhaarig, Mongolenschnurrbart, klein und untersetzt. Hervorragende Musiker.
    Beim ersten Sirren des Beckens, als der Schlagzeuger sich auf seinen Platz setzte, beim ersten Schwingen der Kontrabasssaiten, als der Bassist sein Instrument stimmte, bekam Simon schon Gänsehaut. Kurzer Blickwechsel, ein letztes Lächeln, und los ging’s. Mit einem klassischen Jazz-Standard, On Green Dolphin Street, mit dem sie jeden Set anfingen und abschlossen.
    Allein, wie der Pianist das Thema vorstellte und wie er dann, vor allem als er zu improvisieren begann, in einer ganz bestimmten Weise auf sein Solo zuspielte, es ankündigte, einführte, seinen ganzen Charakter von Anfang an klarstellte, allein dies versetzte Simon, so sagte er mir, in einen eigenartigen Gemütszustand.
    Ich, der ich Ihnen gerade die kurze Geschichte von Suzanne und Simon erzähle, bin Maler. Ich weiß nicht, was ich bei einem Gemälde empfände, das die perfekte Nachbildung eines meiner Bilder wäre, dergleichen ist mir nie passiert.
    Oder was ein Schriftsteller bei der Lektüre eines Buches empfände, dessen Stil den seinen perfekt nachbildet. Ich weiß es einfach nicht. Aber ich weiß, denn er hat es mir erzählt, dass sich Simon dabei außerordentlich unwohl fühlte. Das verstehe ich. Ganz unmittelbar und ohne es näher begründen zu können. Seit so vielen Jahren seiner selbst beraubt, wagte er gar nicht in Begriffen von Raub und Enteignung zu denken. Was er dachte, war nur: Wenn ich das an seiner Stelle spielen würde, dann würde ich es genauso spielen wie er.
    Er hatte schon so lange nicht mehr gespielt. Man verliert die Erinnerung an sein Spiel. Man vergisst, dass man vielleicht einen Stil hatte. Aber während er dem jungen Pianisten zuhörte, wurde Simon nach und nach klar, dass er, der andere, der junge, spielte wie er, wie er selbst einst gespielt hatte.
    Simon

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