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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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aufwachte. Aber in Wirklichkeit konnte er nur nicht mehr stillsitzen – er verspürte plötzlich das Bedürfnis, Hayes zu sehen und seine Stimme zu hören.
    Er streckte erst den einen Fuß aus, dann den anderen, und versuchte verstohlen aufzustehen, ohne dass Laura Lou etwas mitbekam. Doch als er sich erhob, rutschte der Stuhl zurück und schlug gegen das Bett. Erschrocken hielt er inne, und Laura Lou regte sich, offenbar bemüht, den Kopf vom Kissen zu heben. Er lief zum Fenster, um das Rollo hochzuziehen, und als er zum Bett zurückkam, richtete sie sich auf und streckte ihm die Arme entgegen, unerträgliches Entsetzen im Blick.«Vanny, ich bin …»Sie fiel zurück und lag reglos da. Er kniete am Bett nieder und nahm ihre Hand; kurz darauf wurde ihr Atem zu einem abgehackten, gequälten Keuchen. Eine tödliche Kälte überkam ihn. Dieses Keuchen klang, als werde etwas aus seiner Verankerung gerissen. Ihre Augen waren geschlossen, und sie schien nicht zu wissen, dass er da war.
    Er stand auf und ging zur Tür. Durch den Spalt sah er, dass Hayes in Hemdsärmeln eine Kaffeekanne und eine dampfende Schüssel auf den Tisch stellte. Er winkte ihn zu sich und sagte:« Der Arzt – holen Sie ihn lieber sofort …»Dann meinte er im Schlafzimmer ein Geräusch zu hören und drehte sich zitternd um. Da packte Hayes ihn am Arm.«Geht es ihr schlechter? Kann ich sie vorher einen Augenblick sehen?», flüsterte er.
    Vance empfand es mit einem Mal als Erleichterung, wenn noch ein anderer das geistesabwesende Gesicht auf dem Kissen sah. Vielleicht wusste Hayes … Er seufzte«Ja», und Hayes schlich hinter ihm ins Zimmer. Sie traten ans Bett, und Hayes beugte sich über Laura Lou. Ihre Augen waren jetzt geöffnet. Sie blickte unverwandt zu den beiden Männern auf und durch sie hindurch ins Unbekannte. Ihre Hand zupfte am Leintuch. Plötzlich holte sie kurz Atem und war dann wieder still. Vance und Hayes standen Seite an Seite, ohne ein Wort zu sagen. Ihre Hand hörte auf zu zupfen, sie lag still auf dem Betttuch, papieren und zart wie ein totes Blatt. Hayes beugte sich hinunter, hielt seinen runden, kurz geschorenen Kopf dicht vor ihre Lippen und richtete sich langsam wieder auf.«Sie ist tot», sagte er.
    Vance stand regungslos da, ohne zu begreifen. Er sah, wie Hayes eine kurze, dicke Hand ausstreckte und die Lider über Laura Lous Augen schloss. Dann sah er ihn aus dem Zimmer gehen, sehr steif und mit kurzen, unsicheren Schritten.

    Die Stunden vergingen. Hayes fuhr telefonieren; als er zurückkam, erschien gerade der Arzt mit einer Krankenschwester. Die beiden betraten das Schlafzimmer, und Vance saß draußen auf der Veranda. Er fühlte sich wie ein unbeteiligter Zuschauer. Nach einer Weile kam Hayes heraus und sagte:«Sie sollten etwas essen – in der Küche gibt es Eier und heißen Kaffee.»Vance schüttelte den Kopf, und der andere verschwand wieder. Der Arzt fuhr weg; er sagte Vance, Mr Hayes werde die Schwester heimbringen, wenn sie fertig sei. Das Wort«fertig»klang entsetzlich; aber Vance rührte sich nicht vom Fleck. Ihm war, als habe alles, was da drinnen geschah, mit ihm nichts zu tun. Endlich kam die Schwester heraus, und Hayes fuhr sie den Feldweg hinunter zur Straßenbahn. Als er zurückkehrte, saß Vance immer noch an derselben Stelle.
    « Möchten Sie nicht reingehen und sie sehen?», fragte Hayes zögernd.
    Ohne eine Antwort stand Vance auf und folgte ihm ins Haus. Hayes blieb im Wohnzimmer, und Vance näherte sich der geschlossenen Schlafzimmertür. Dann hielt er inne und drehte sich um.«Sie kommen mit», sagte er zu Hayes.
    Der andere schüttelte den Kopf.«Nein, nein.»
    Doch Vance hatte unbeschreibliche Angst davor, allein das totenstille Zimmer zu betreten.«Sie kommen mit», wiederholte er im Ton eines eigensinnigen Kindes. Hayes errötete und folgte ihm.
    Das Bett war ganz weiß; als Vance näher trat, sah er, dass es mit weißen Rosen und Osterlilien bedeckt war. Hayes musste sie in der großen Schachtel, die er aus dem Auto geschleppt hatte, mitgebracht haben. Von der Blumendecke hob sich ein kleines, wächsernes Bildnis mit Laura Lous Gesichtszügen ab. Ihre Augen waren geschlossen, und ihre blassen Lippen lächelten. Sie schien von einem Bildhauer modelliert worden zu sein, dem es nicht gegeben war, tiefere Regungen darzustellen – oder sie war in eine Sphäre vorgedrungen, wo diese Regungen von der Seele abfallen wie ein zerschlissenes Gewand.
    Vance hatte vergessen, dass Hayes im Zimmer war.

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