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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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Teil von Hayes’ Scheck ausgegeben und brauchte bald mehr Geld; jetzt war es seine Aufgabe, das zu verdienen. Er ballte die Fäuste und saß brütend über den Musteranzeigen, bis es Zeit war, Laura Lou die eisgekühlte Milch zu bringen. Aber er hatte nicht geahnt, wie stark die Kraft war, die ihn antrieb. In den Nächten des krampfhaften Wachens hatte sich in seiner Phantasie ein heftiger Drang angestaut, der ihn nicht ruhen ließ. Worte lockten ihn singend wie die Sirenen den Odysseus, manchmal war die Erinnerung an eine einzelne Wendung wie der Schritt über die Schwelle eines mächtigen Tempels. Er erlebte wie nie zuvor den Rausch gewaltiger, kometengleicher Gedankenflüge über den Himmel menschlicher Ideen und dann wieder die anregende Wirkung minutiöser Feinarbeit, bei der er sich durch nichts ablenken ließ. Ab und zu hörte er auf zu schreiben und ließ sich von seinen Visionen forttragen; danach machte er sich wieder mit Feuereifer an die genaue Untersuchung seiner Figuren. Es lag etwas Übernatürliches, Zwanghaftes in diesem seltsamen Wechsel zwischen Erschaffen und Träumen. Manchmal überfiel ihn nach einer durchwachten Nacht die Erschöpfung mitten im Arbeiten, und er sank am Schreibtisch in einen bleiernen Schlaf. Als er einmal aus einem solchen Schlaf erwachte, dröhnte sein Kopf von Worten, die er vor langer Zeit, in den Anfangstagen des Lernens und Hungerns, gelesen hatte:« Nachdem ich durch alle Elemente gefahren, kehrt ’ ich wiederum zurück. Zur Zeit der tiefsten Mitternacht sah ich die Sonne in ihrem hellsten Lichte leuchten. Ich schaute die untern und obern Götter von Angesicht zu Angesicht und betete sie an … » 107 Ja, das war es, die untern und die obern Götter … und sie hatten ihn beherrscht … Er holte die Milch aus dem Eisschrank und brachte sie Laura Lou.
    Bunty Hayes und die Arbeit für«Storecraft»hatte er völlig vergessen. Jeden Augenblick, den er nicht bei seiner Frau zubrachte, widmete er seinem Buch. Und Laura Lou brauchte wirklich wenig Pflege … Eines Tages blieb der Arzt beim Abschied noch auf der Veranda stehen und sagte:«Gibt es niemanden, der kommen und Ihnen helfen kann? Hat Ihre Frau keine Familie?»Die Frage riss Vance aus seinem lähmenden Traum. Er hatte Mrs Tracy noch nichts von der Krankheit ihrer Tochter geschrieben. Er erklärte dem Arzt, Laura Lou habe zwar in Kalifornien eine Mutter und einen Bruder, aber denen habe er noch nicht Bescheid gesagt, denn dann käme die Mutter sicher angereist, und Laura Lou würde wissen, dass nur eine Schreckensnachricht sie zu einer solchen Reise hatte bewegen können – und er fürchte die Auswirkung auf seine Frau.
    Der Doktor dachte in seiner freundlichen, wortkargen Art darüber nach.«Na, ich weiß nicht, ob Sie recht haben. Sie übernehmen bestimmt die Verantwortung dafür, dass Sie ihnen nichts sagen?», fragte er schließlich, und als Vance dies bejahte, fuhr er ohne weitere Stellungnahme weg.

    Die Tage folgten einander mit trügerischer Geschwindigkeit, glatt und gleichförmig dahingleitend wie ein Fluss kurz vor dem Sturz in den Wasserfall. Eine Stunde verstrich so langsam wie die andere, dennoch schien der Tag nie genug Stunden zu haben. Nach einer kalten, regnerischen Periode wurde es wieder schön und frühlingshaft, und an den schönsten Tagen trug Vance Laura Lou ins Wohnzimmer. Dort saß sie dann, in Decken gehüllt, in der Sonne und sah ihm beim Schreiben zu.
    « Bald tippe ich wieder für dich ab», sagte sie mit dem kleinen Lächeln, das ihr blasses Zahnfleisch entblößte, und er lächelte zurück und nickte.
    « Ich glaube, jetzt kann ich es besser als früher… ich darf mich nur nicht so vornüberbeugen», fuhr sie fort. Er nickte wieder und legte den Finger auf die Lippen, denn der Arzt hatte gesagt, sie solle nicht reden. Dann schrieb er weiter, und als er sich wieder nach ihr umdrehte, war ihr Kopf zurückgefallen, und sie schlief, die Sonne im Haar.
    Eines Tages überredete sie ihn, sie länger als sonst aufbleiben zu lassen. Sie sehe ihm gern beim Schreiben zu, sagte sie, und was könne es schaden, wenn sie mäuschenstill dasitze und keinen Mucks mache? Er könne dem Arzt melden, dass sie nicht rede … Vance, in seine Arbeit vertieft, willigte geistesabwesend ein. Er hatte sie gern in seiner Nähe, während er schrieb – er hatte das Gefühl, als könne nichts wirklich Schlimmes passieren, solange er bei ihr war, und wusste, sie empfand ebenso. Er glaubte nicht mehr, dass sie sterben

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