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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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den Sinn, Mr Scrimser zu beschuldigen, der nur kurz den Kopf hereingesteckt und eines seiner Scherzchen gemacht hatte. Mrs Weston hätte bezeugen können, dass ihr Vater höchstens zwei Minuten im Zimmer gewesen war. Mr Scrimser war in ganz Euphoria als geübter Gemütsaufheller bekannt. Er benahm sich im Krankenzimmer stets taktvoll und war sehr gesucht, wenn es darum ging, in den langen Stunden der Genesung Heiterkeit zu verbreiten. Als er das Haus verließ, sagte seine Tochter:«Du musst morgen wiederkommen und Vance ein Lachen entlocken», und Mr Scrimser entgegnete mit seiner dröhnenden Stimme:«Du kannst auf mich zählen, Marcia – wenn er nicht zu beschäftigt ist, um Besuch zu empfangen. »Aber er kam kein zweites Mal, und Mrs Scrimser ließ ausrichten, er habe wieder Ischiasschmerzen; mal sehen, ob die Gebete des Wohltätigkeitszirkels etwas hülfen.
    Drei Tage nach dem Besuch des Großvaters bat Vance, der jetzt in einem Sessel saß, die Mutter um Papier und Füllfederhalter. Mrs Weston, für die sämtliche schriftstellerischen Tätigkeiten, und sei es das Verfassen von Briefen, unsägliche Mühsal bedeuteten, protestierte.«Was musst du denn jetzt schreiben? Davon bekommst du nur Kopfweh.»Aber Vance erwiderte, er wolle nur etwas notieren, und sie gab ihm das Gewünschte. Als sie fort war, nahm er den Füller und schrieb quer übers Papier:« Hol ihn der Teufel – ich hasse ihn – ich hasse – hasse – hasse …»Es folgte eine lange Zeile mit obszönen, blasphemischen Drohungen.
    Seine Handschrift war noch zittrig, aber er malte die Buchstaben langsam und sorgfältig, mit einer Art von morbider Befriedigung. Er glaubte, wenn er sie niederschriebe, würde sich auf geheimnisvolle Weise das furchtbare Gefühl des Verlassenseins auflösen, das erneut von ihm Besitz ergriffen hatte, seit er ins Leben zurückgekehrt war. Aber nach dem ersten Wutausbruch empfand er keine Erleichterung, und er versank wieder in der Einsamkeit, die ihn seit jenem Nachmittag, als er am Zaun gelehnt und über das Ahornwäldchen zum Fluss geblickt hatte, von seinesgleichen absonderte. Doch er musste sich Erleichterung verschaffen, und zwar sofort, andernfalls konnte er diese abscheuliche Angelegenheit namens Leben gleich hinschmeißen. Er schloss die Augen und versuchte sich auszumalen, dass er wieder gesund war und den gewohnten Verrichtungen und Vergnügungen nachging, und zutiefst angewidert wandte er sich von dieser Vorstellung ab. Das edle Antlitz der Welt war besudelt; er empfand zum ersten Mal den qualvollen Schmerz der Jugend über eine solche Entweihung.
    Seine Not war unerträglich. Er fühlte sich wie ein Gefangener, eingemauert in eine dunkle, luftlose Zelle, und die Wände dieser Zelle waren die Wirklichkeit, waren das Leben, zu dem er in Zukunft verurteilt war. Der Drang, das alles hier und jetzt zu beenden, ergriff Besitz von ihm. Er hatte die Angelegenheit geprüft und für mangelhaft befunden; er hatte eine Runde gedreht und war vom Ekel gewürgt zurückgekommen. Das Nichts des Todes war besser, tausendmal besser. Er stand auf und ging schwankend durchs Zimmer zur Tür. Er wusste, wo der Revolver seines Vaters lag. Mrs Weston hatte einen einzigen wunden Punkt, sie fürchtete sich vor Einbrechern, und so hatte ihr Mann in der Nachttischschublade zwischen den Betten immer einen Revolver liegen. Vance mühte sich den Flur entlang und stützte sich dabei an der Wand ab. Das Haus war still und leer. Seine Mutter und die Mädchen waren ausgegangen, und die Litauerin arbeitete sicher unten in der Küche. Er kam zum Schlafzimmer seiner Eltern, wankte zu dem Tischchen zwischen den Betten und zog die Schublade auf. Der Revolver war nicht da.
    Vance schwindelte es. Er hätte woanders nachschauen, ihn suchen können … aber ihn überkam eine plötzliche Schwäche, und er setzte sich auf den nächsten Stuhl. War das die Schwäche des Rekonvaleszenten oder der heimliche Widerwille, die Suche fortzusetzen, die uneingestandene Angst, er könne finden, was er suchte? Das fragte er sich und bekam keine Antwort. Doch als er so dasaß, wurde ihm bewusst, dass er sogar auf der stockend zurückgelegten Strecke von seinem Zimmer bis zu der Stelle, wo, wie er glaubte, der Tod auf ihn wartete – dass er selbst auf diesem Weg, der räumlich so kurz und zeitlich so lang war, gespürt hatte, wie das Leben, die Urmutter, die Arme nach ihm ausstreckte, ihn umschlang und wieder fest an den mächtigen, unbekümmerten Busen drückte. Er war

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