Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
Vom Netzwerk:
froh – jetzt war er froh –, dass er die Waffe nicht gefunden hatte.
    Er kroch zurück in sein Zimmer und zu seinem Sessel, zog sich die Decke über die Knie und blieb dort sitzen, schwach und verängstigt. Sein Herz pochte noch immer krampfhaft. Es war unglaublich, was für einen Feigling die Krankheit aus ihm gemacht hatte. Aber er war entschlossen, sich nicht geschlagen zu geben, keinen faulen Kompromiss zwischen seiner Furcht vor dem Leben und seiner noch ärgeren Furcht vor dem Tod zu akzeptieren. Wenn es galt zu leben – gut, dann würde er leben!
    Das Schreibpapier lag auf dem Tisch neben ihm. Er drehte das Blatt um, auf das er seine besinnungslosen Flüche gekritzelt hatte, und saß mit dem Füller vor dem weißen Papier. Dann schrieb er langsam und sorgfältig oben auf die Seite:«Ein Tag». Ja – das war der richtige Titel für die Geschichte, die er erzählen wollte. Ein Tag hatte genügt, um sein Leben zu zerschmettern.
    Er begann hastig, fiebrig; die Worte stürzten ihm aus dem Füller wie Wasser aus einem lang verstopften Brunnen, und als die Absätze wuchsen, schien ihm, dass er endlich einen Weg gefunden hatte, wie er seine Seele mit ihren Erfahrungen aussöhnen konnte. Er würde alles genau so niederschreiben, wie es ihn heimgesucht hatte, grausam und wahr, aber so, als berichte er vom Unglück eines anderen.

4
    Als Mrs Weston beim Frühjahrsputz, der sich durch Vance’ Krankheit beklagenswert lang hinausgezögert hatte, alte Weihnachtskarten durchblätterte, stieß sie auf ein Bild, das Eisboote auf dem zugefrorenen Hudson zeigte, und sagte:«Lucilla Tracy … ach, auf diese Karte hat sicher niemand geantwortet …»
    Die Ärzte empfahlen Vance wegen der Hitze eine Luftveränderung; er solle sich an einen Ort verziehen, der ihn auf andere Gedanken bringe. Neunzehn sei ein schlimmes Alter für eine derartige Erschütterung, es brauche Zeit, bis ein heranwachsender Körper nach einem solchen Aufruhr wieder ins Lot komme. Bis zum Herbst solle die Familie lieber nicht verlangen, dass sich der Junge nach einer Arbeit umsehe – sie solle ihn in den heißen Monaten einfach in Ruhe lassen, wenn möglich irgendwo am Meer.
    Das Meer kam der Familie Weston sehr weit weg vor, besonders Mrs Weston, die sowieso nie begriff, wie jemand, dessen Wohnzimmerfenster auf die Mapledale Avenue in Euphoria ging, jemals den Wunsch verspüren konnte, woanders hinzureisen, und sei es nach Chicago. Aber sie hatte sich um den Jungen geängstigt, und ihr Mann ängstigte sich, wie sie wusste, immer noch. Die beiden berieten sich und beschlossen, Vance selbst entscheiden zu lassen, wo er hinwollte. Der Vater stellte ihm die Frage, und Vance antwortete sofort:«New York.»
    Eine niederschmetternde Mitteilung. New York war fast so weit weg wie Europa, zehnmal so teuer und im Sommer so heiß wie Chicago; dort ging man hin, wenn man ein Vermögen gemacht hatte, dort ließ man es sich mit seiner Familie eine Woche gut gehen, wenn man ein glänzendes Geschäft abgeschlossen hatte. In solchen Kategorien dachte Mr Weston. Seine Frau bemerkte mit nervös gerunzelten Lippen, eine so lange Reise würde Vance ermüden und schon im Voraus allen Nutzen der verordneten Ruhepause zunichtemachen. Und wenn das Meer zu weit weg sei, warum dann nicht die Großen Seen? Dort sei die Luft gewiss ebenso erholsam. Und dort würde sich die Familie um ihn kümmern. Wenn Vance zu den Seen wollte, würde Vater sie wahrscheinlich alle dorthin mitnehmen. Sie warf ihrem Mann einen Blick zu, der ihn auf der Stelle zustimmen ließ.
    Aber Vance antwortete bleich und halsstarrig wie stets seit seiner Krankheit:«Ich möchte nach New York. Von dort aus gelangt man ziemlich leicht ans Meer.»
    Mr Weston lachte.«Ja, aber es ist verdammt schwer, erst mal dorthin zu gelangen.»Vance schwieg, und die Familie tauschte ratlose Blicke. In diesem Augenblick kam Mrs Scrimser hereingehumpelt, von ihrem Rheumatismus geheilt (dank der Gebete des Wohltätigkeitszirkels, die bei ihrem Mann leider keinen Erfolg gezeitigt hatten), aber den großen, üppigen Körper wie immer schwerfällig auf ihren Stock gestützt. Sie setzte sich zu den anderen auf den Schlafbalkon, wo Vance inzwischen seine tägliche Liegekur absolvierte, lauschte den verständnislosen Berichten der Familie und sagte mit ihrem träumerischen, prophetischen Lächeln:«Der Mensch wünscht sich nur einmal im Leben etwas so dringend, dass nichts auf der Welt es ersetzen kann. Ich würde mich nicht wundern,

Weitere Kostenlose Bücher