Ein altes Haus am Hudson River
Lucilla kenne, wird sie sehr lieb zu ihm sein und schon irgendwie einen Arzt herbeiholen, genauso schnell wie seine eigene Mutter.»
Mrs Weston warf ihm einen vernichtenden Blick zu.«Wie du Lucilla Tracy kennst? Du kennst sie überhaupt nicht, Lorin; das sagst du nur, weil du dich erinnerst, dass sie hübsch war und ein knallrosa Rüschenkleid anhatte.»Mr Weston erwiderte gelassen, seines Wissens seien das nicht die schlechtesten Eigenschaften an einer Frau; er jedenfalls gehe jetzt ins Telegrafenamt und werde dort ein Telegramm aufgeben, dann würden sie weitersehen. Je nach Antwort könnten sie sich dann immer noch entscheiden.
Eine Woche später wurde Vance in New York an der Grand Central Station von seinem jungen Vetter Upton Tracy abgeholt. Upton war ein spindeldürrer Junge von etwa sechzehn Jahren mit schwermütigen grauen Augen und einem freundlichen Lächeln. Er erzählte, dass er in einer Gärtnerei in Paul’s Landing arbeite, der Chef habe ihm aber diesen Nachmittag freigegeben, damit er nach New York fahren und seinen Cousin abholen könne.
Vance hoffte, Upton werde nicht merken, wie froh er darüber war. Er fühlte sich nach seiner Krankheit immer noch schwach, und die lange Eisenbahnfahrt – die erste derart lange seines Lebens – hatte ihn mehr mitgenommen als erwartet. Als er in Chicago in den Zug gestiegen war, hatte sein Herz bei dem Gedanken an New York so aufgeregt geklopft, dass er alle Empörung und Enttäuschung vergessen und insgeheim beschlossen hatte, seine Reise für eine Nacht in der Großstadt zu unterbrechen, bevor er zu seinen Verwandten nach Paul’s Landing weiterfuhr. Doch jetzt, müde und bedrückt vor Selbstzweifel, den ihm die gar nicht müde Umgebung einflößte, fühlte er sich dieser gewaltigen, turmhohen, steinernen Wildnis nicht gewachsen, für deren Zigtausende von Bewohnern ein Vance Weston aus Euphoria nicht mehr bedeutete als ein einzelner Regentropfen für den Ozean.
Er war wütend auf seine Mutter gewesen, weil sie vorgeschlagen hatte, einer der Tracys solle ihn am Bahnhof in New York abholen, und er hatte geschworen, sich von seiner Familie nie mehr wie ein Schlappschwanz behandeln zu lassen; doch als in der achtlosen, gleichgültigen Menge auf dem Bahnsteig Uptons schwermütiges Gesicht auftauchte, war Vance erleichtert wie ein verängstigtes Kind, das sich verirrt hat.«Das kommt von der Krankheit», knurrte er vor sich hin, während sein Vetter auf die rote Nelke zeigte, an der er ihn erkennen sollte. In Euphoria hätte Vance den schüchternen Jungen an seiner Seite mit Herablassung behandelt, aber jetzt war er noch schüchterner als dieser und vermerkte dankbar, dass er wenig redete und wie selbstverständlich mit ihm im Bahnhof wartete, bis der nächste Zug nach Paul’s Landing abfuhr. Zum Glück ging er in einer halben Stunde.
Seine Mutter hatte gesagt:«Lass es mich wissen, wenn du da drüben etwas siehst, das besser ist als in Euphoria», und er hatte gelächelt und keine Antwort gegeben. Als er in Paul’s Landing mit Upton aus dem Bahnhof trat, fiel ihm ihre Bitte wieder ein, jählings und irgendwie demütigend. Da stand die übliche Reihe von Fords und hinter ihnen, im zartgrünen Schatten krummästiger Robinien, ein kurioses Grüppchen alter Karren und Personenfuhrwerke mit matten Pferden, die sich die Fliegen vom Leib wedelten und bekümmert die Köpfe schüttelten. Es war eine Szene wie aus einem Film über den Bürgerkrieg, wo immer jede Menge Pferde mit wedelnden Schweifen und schmutzigen Mähnen vorkamen. Der älteste, trübsinnigste Klepper mit einer verfärbten weißen Mähne wie einem Raucherbart war an einen abgenagten Pfosten angebunden; Upton ging hin und band das Pferd los, und es schüttelte den Kopf in melancholischem Erkennen.
« Wir wohnen ziemlich weit weg von der Straßenbahn, deshalb hat mir ein Nachbar sein Gespann geliehen, damit ich dich abholen kann», erklärte Upton und hob Vance’ Gepäck hinten auf einen Einspänner, der mindestens ebenso alt war wie das Pferd. Vance hätte in diesem Augenblick keinen Schritt gehen können, noch viel weniger einen Koffer tragen, nicht einmal den kleineren, deshalb war er dem unbekannten Nachbarn dankbar; doch wenn er daran dachte, dass man nach einem Besuch bei einem Freund in Swedenborg oder Dakin oder sonst irgendwo in seinem Heimatstaat mit einem schmucken, schnurrenden Ford vom Bahnhof heimfuhr (wenn nicht sogar in einem eleganten Chevrolet oder dem Buick der Familie), gesellte
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