Ein Ballnachtstraum
Udellas Großneffe Lord Horace Thornton hatte Eloise inständig gebeten, in seinem Haus als Gouvernante und Erzieherin seiner unverheirateten Schwester Thalia zu bleiben. Er hatte ihr die feste Zusage gegeben, dass ihre Dienste nur so lange benötigt würden, bis Thalia verheiratet war. Eloise hätte damals ihrer inneren Stimme folgen sollen, das Angebot dankend abzulehnen.
Thalia, deren Eltern früh verstorben waren, aufgewachsen mit einem leichtlebigen Bruder, der den Großteil seines Erbes bereits am Spieltisch verloren hatte, war ein gründlich verzogener Fratz. Es gab leider kein milderes Urteil für ihr ständig ungebührliches Verhalten.
„Hast du sie endlich gefunden?“, fragte eine besorgte Frauenstimme hinter ihr.
Eloise riss den Blick schuldbewusst von der offenen Verandatür los. Es war höchste Zeit, den Herzensbrecher und seine schwindelerregenden Küsse zu vergessen. Die raue Wirklichkeit stand vor ihr in Gestalt der unscheinbaren Miss Mary Weston, Gesellschafterin der fülligen Baronin, die mit dem Fallenlassen ihres Fächers die Kette der Ereignisse dieses Abends in Gang gesetzt hatte. „Nein“, gab Eloise kleinlaut zu, erneut von Sorge ergriffen. „War sie nicht im Erfrischungsraum?“
Mary schüttelte den Kopf und flüsterte bang: „Niemand hat sie gesehen. Solltest du vielleicht im Wintergarten nachschauen oder in einem Zimmer im ersten Stock?“
„Ich kann doch nicht einfach in fremde Schlafzimmer eindringen“, entgegnete Eloise und erbleichte bei der Vorstellung. Nicht auszudenken, was sie tun würde, wenn sie Thalia mit einem fremden Mann auf frischer Tat ertappen würde.
„So töricht kann sie doch nicht sein, oder?“ Mary wagte gar nicht, an so etwas Anstößiges zu denken.
„Doch, das traue ich ihr zu“, antwortete Eloise mit bitterer Überzeugung.
„Aber sie ist doch verlobt …“
„Mit einem Mann, von dem sie behauptet, sie könne ihn nicht lieben.“ Und jener bedauernswerte, völlig vernarrte Baron hatte Eloise einen großzügigen Bonus versprochen für ihre Zusage, ein Auge auf seine „temperamentvolle Verlobte“ zu haben, bis er von seiner Geschäftsreise aus Amsterdam zurückkehrte. Der eher reizlose Mann war sich zweifelsohne bewusst, dass er im Vergleich zu den flotten Jünglingen der feinen Gesellschaft, zu denen Thalia sich hingezogen fühlte, nicht unbedingt vorteilhaft abschnitt. Eloise wäre keineswegs erstaunt gewesen zu erfahren, dass Thalia ihre Verlobung mit voller Absicht hintertrieb.
„Wo steckt eigentlich ihr Bruder?“ Mary blickte sich suchend um. „Lord Thornton hat euch beide doch zum Ball begleitet, nicht wahr?“
„Ich fürchte, Seine Lordschaft hat völlig vergessen, dass er eine Schwester hat, und im Übrigen würde es ihn nicht weiter stören, wenn sie spurlos verschwunden wäre.“
In diesem Augenblick tauchte ein junges Paar in der Verandatür auf. Beide wirkten erhitzt und sichtlich derangiert von den heimlichen Zärtlichkeiten, die sie offenbar getauscht hatten. Leider handelte es sich bei der jungen Dame nicht um Thalia und bei dem hoch aufgeschossenen jungen Mann an ihrer Seite nicht um den blauäugigen Herzensbrecher, der Eloise von ihren Pflichten abgelenkt hatte. Aus einem unerklärlichen Grund besänftigte diese Erkenntnis ihren inneren Aufruhr ein wenig.
Mary stieß ihr sanft den Ellbogen in die Seite. „Du musst sie finden, bevor ein anderer sie bei einer Unbedachtheit erwischt.“
Diese Aufforderung brachte wieder Leben in Eloise. Eine Gouvernante hatte kein Recht, sich in romantischen Fantasien über einen Lebemann zu ergehen. „Ja, ich finde sie, und dann kann sie was erleben.“
Drake schlenderte in den Spielsalon im ersten Stock auf der Suche nach seinem jüngeren Bruder Devon. Möglicherweise aber hatte der Grünschnabel mit einer seiner Verehrerinnen mehr Glück gehabt als er mit der entzückenden, wenn auch unnahbaren Miss Pflichtbewusstsein. Er schmunzelte in Erinnerung an diese allzu kurze Begegnung. Mit etwas mehr Zeit wäre es ihm gewiss gelungen, ihr Herz für ihn zu erwärmen. Nun denn, für sie war es so ohnehin besser, da eine junge Frau, die sich in Drakes Begleitung in der Öffentlichkeit zeigte, ihren guten Ruf in der vornehmen Gesellschaft bereits beschädigt hatte.
„Schönen Abend, Boscastle“, grüßte ein Herr träge aus den Tiefen eines Ledersessels. „Wie man hört, werden Sie demnächst für längere Zeit aus dem Verkehr gezogen.“
„Ja, wenn ich Glück habe“, entgegnete Drake
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