Ein bisschen blutig - Neue Gestaendnisse eines Kuechenchefs
wollte, als ich am anderen Ende des Raums ein bekanntes Gesicht sah. Ein Mädchen, das ich vom College kannte, saß mit Freunden am letzten Tisch. Damals hatte sie viele Bewunderer gehabt, weil sie so sagenhaft war (wir sprechen von den Siebzigerjahren, als sagenhaft sein zu den größten Tugenden zählte). Sie war wunderschön, glamourös - in künstlerisch angehauchter, ein bisschen dekadenter Zelda-Fitzgerald-mäßiger Art und Weise, schamlos, teuflisch klug - und angemessen exzentrisch. Ich glaube, sie ließ mich mal an ihrem Busen fummeln. Nach dem College stieg sie in Downtown Manhattan zu einer »Persönlichkeit« auf, stand mit ihren diversen Lyrik- und Akkordeonabenteuern immer kurz vor dem Durchbruch. In der alternativen Presse jener Tage las ich regelmäßig über sie. Als ich sie nun sah, versuchte ich instinktiv, mich in mein Polyesterhemd zurückzuziehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nicht auch noch das spitze Papierkäppi trug, aber es kam mir ganz bestimmt so vor. Ich hatte sie nicht mehr gesehen seit der Schule, als auch ich in den Augen vieler eine Karriere vor mir hatte, die nicht ausgerechnet
in einer Snackbar enden sollte. Ich betete, sie möge mich nicht erkennen, aber es war schon zu spät. Ihr Blick streifte mich, es folgte ein kurzer Moment des Erkennens - und der Traurigkeit. Doch dann war sie gnädig. Sie tat so, als habe sie mich nicht gesehen.
Ich glaube, damals schämte ich mich für die Imbissbude. Heute nicht mehr. Von meinem relativ luxuriösen Blickwinkel aus betrachtet - es duftet noch nach bedrohten Arten und gutem Wein, ich sitze im Bankettsaal und lecke mir das Ortolanfett von den Lippen -, wird mir klar, dass eins direkt zum anderen führte. Hätte ich in den Ferien nicht einen chancenlosen Job als Tellerwäscher angenommen, wäre ich nicht Koch geworden. Wäre ich nicht Koch geworden, hätte ich nie Küchenchef werden können. Wäre ich nicht Küchenchef geworden, hätte ich es nie dermaßen spektakulär vermasseln können. Hätte ich nicht die Erfahrung gemacht, wie es ist, etwas in den Sand zu setzen - und zwar so richtig -, und hätte ich nicht jahrelang in billigen New Yorker Klitschen Brunch zubereitet, wäre meine abscheuliche, aber wahnsinnig erfolgreiche Autobiografie nicht halb so interessant geworden.
Denn, nur damit wir uns verstehen: Ich sitze nicht mit den Göttern der Gastronomie hier an einem Tisch, weil ich so gut koche.
Das Dessert wird serviert, es ist Île flottante. Ein einfaches Baiser, das seinen Charme in einer Pfütze Crème Anglaise entfaltet. Alle sind begeistert von diesem prähistorischen Klassiker, der altmodischer nicht sein könnte. Wir aalen uns in der Wärme der Jovialität, unserer gemeinsamen
Wertschätzung für dieses außergewöhnliche Mahl. Mit Calvados und Cognac stoßen wir auf unser Glück an.
Nein, das Leben ist durchaus nicht beschissen.
Aber die offensichtliche Frage bleibt unbeantwortet. Ich stelle sie mir im Stillen.
Was zum Teufel habe ich hier verloren?
Ich kann keinem Mann, keiner Frau hier am Tisch das Wasser reichen. Keiner von ihnen hätte mich, egal wann, je eingestellt, nicht einmal der Bursche neben mir. Und der ist mein allerbester Freund.
Was sollten Menschen, die so viel erreicht haben, mit meinem Buch, meinen Erinnerungen an ein mittelmäßiges, ja, erbärmliches Leben, anfangen können? Und wer sind diese Leute eigentlich? Sie sehen aus wie Prinzen, wie sie sich nach dem Essen zurücklehnen und eine Zigarette genießen. Sind das etwa die Verlierer, Sonderlinge und Außenseiter, die ich beschrieben habe?
Oder habe ich das alles nur falsch verstanden?
Ausverkauf
A ls ich Geständnisse eines Küchenchefs schrieb, war ich in mancherlei Hinsicht himmelschreiend naiv, auch, was meine Abneigung gegen den Sender Food Network angeht. Aus meiner Perspektive der hektischen Restaurantküche wirkten Emeril und Bobby auf dem Bildschirm wie Wesen von einem anderen Stern: groteske Geschöpfe, die in einer bonbonfarbenen Galaxie, Welten entfernt von der meinen, aufgesetzte Fröhlichkeit verströmten. Sie hatten in etwa so wenig mit meinem Leben zu tun wie Barney, der lila Dinosaurier, oder das Saxofonspiel eines Kenny G. Dass die Leute, völlig fremde Leute, sie offenbar mochten und jedes Mal johlten und klatschten, wenn Emeril das Wort »Knoo-blauch« benutzte, steigerte meine Abneigung nur noch. In meinem Leben, in meiner Welt war es ein Grundprinzip, dass ein Küchenchef nicht liebenswert ist. Deshalb ist er
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