Ein Buch für Hanna
assimiliert, etwas anderes haben sie nie angestrebt. Dass ich mich den Zionisten angeschlossen habe, hat sie tief getroffen. Damals wollte ich unbedingt weg von zu Hause, möglichst weit weg. Aber jetzt ist alles anders geworden. Kannst du das nicht verstehen?«
»Doch«, sagte Hanna, »doch, natürlich verstehe ich das. Jetzt ist wirklich alles anders geworden. Aber ich habe immer geglaubt, wir gehören zusammen. Wir waren mal fünf. Mira ist nicht mehr bei uns, und Rosa will, glaube ich, nach Amerika zu ihrem Onkel. Wenn du jetzt ebenfalls weggehst, bleiben nur noch Bella und ich übrig.«
Rachel hob die rechte Schulter, ließ sie wieder fallen. »Na und? Als wir Ahrensdorf verlassen haben, waren wir neun. Das war mal, Hanna, begreifst du das nicht? Diese Zeit ist vorbei, Gott sei Dank! Oder willst du sie etwa zurückhaben?«
Hanna schüttelte den Kopf.
Ein paar Tage später reiste Rachel ab, und Hanna hatte das Gefühl, als hätte man ihr einen Arm oder ein Bein amputiert.
Die Nächste, die das Lager verließ, war Rosa. Ihr Onkel hatte ihr eine Schiffskarte nach Amerika und Geld geschickt. »Ich wünsche dir viel Glück«, sagte Hanna beim Abschied, bemüht, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Sie hatte einen Kloß im Hals und kämpfte mit den Tränen, obwohl ihr Rosa nie so nahegestanden hatte wie Rachel oder auch Bella.
»Ich werde dir schreiben«, sagte Rosa.
Hanna nickte. Dabei wusste sie, dass Rosa ihr nicht schreiben würde. Sie würde versuchen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, so schnell wie möglich. Und irgendwie konnte sie es sogar verstehen. Trotzdem hätte sie am liebsten geweint. »Ein Abschied nach dem anderen«, sagte sie. »Unsere Welt zerfällt.«
»Was für eine Welt?«, fragte Rosa. »Das nennst du eine Welt?«
Hanna starrte Rosa an. »Wir haben so lange zusammengelebt«, sagte sie. »Und eigentlich kennen wir uns nicht.«
»Wir haben nicht zusammengelebt«, widersprach Rosa, »wir haben uns gegenseitig beim Überleben geholfen, das ist etwas ganz anderes. Vermutlich ist es sogar viel wichtiger. Wir sollten dankbar dafür sein.« Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Ich will Musik studieren, vielleicht kann ich ja doch noch Sängerin werden, trotz der verlorenen Jahre. Falls meine Eltern zurückkommen, werden sie sich freuen. Sie haben immer gesagt, sie könnten sich nichts Schöneres vorstellen, als dass ich Sängerin werde. Besonders mein Vater hat es sich gewünscht.«
Zwei Abschiede innerhalb kurzer Zeit, es fiel Hanna schwer, mit dieser Situation fertig zu werden, umso mehr, als auch Bella bedrückt war und ihr auswich.
Der nächste Abschied ließ nicht lange auf sich warten. Die Hvids beschlossen, nach Dänemark zurückzukehren. Herr Hvid war außer sich vor Freude. Die Mühle habe den Krieg gut überstanden, hatte ihm sein ehemaliger Verwalter geschrieben, sogar die Villa sei nicht geplündert worden, der Herr könne einfach kommen und da weitermachen, wo er am 1. Oktober 1943 aufgehört hatte.
Sie saßen im Garten, als Herr Hvid seine Pläne darlegte. Sarah hatte ihre Mutter mit einem Rollstuhl hergefahren. Es ging ihr zwar deutlich besser, aber das Gehen fiel ihr noch sehr schwer. Man sah ihr an, welche Mühe es sie kostete, einigermaßen gelassen und sogar heiter zu wirken. »Zu Hause kannst du endlich zu einem guten dänischen Arzt gehen, dann kommst du bestimmt bald wieder auf die Beine«, sagte Herr Hvid und tätschelte seiner Frau die Hand. Die betonte Zuversicht in seiner Stimme wirkte nicht ganz echt.
Sarahs Lippen wurden schmal, und Hanna wusste, dass die Freundin aus Rücksicht auf ihren Vater nicht widersprach, sie wollte ihm die Freude nicht verderben. Aber ihre linke Hand umklammerte die Lehne des Rollstuhls so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Ich werde mich um meine Mutter kümmern«, sagte sie, und Hanna dachte: Ich verstehe sie. Wie gern würde ich mich um meine Mutter kümmern. Wenn sie zurückkäme.
Samuel weigerte sich, seine Eltern zu begleiten, er hatte sich für Palästina entschieden. »Ich kann nicht tun, als wäre nichts geschehen«, sagte er. »Ich will weg von Europa, in meinen Augen ist dieser Kontinent ein riesiger Friedhof. Ich will auch nicht mehr Musiker werden, ich will etwas Neues anfangen. Was, weiß ich noch nicht, aber ich werde es bestimmt herausfinden.« Er blieb dabei und ließ sich auch durch die Tränen seiner Mutter und seiner Schwester und die offensichtliche Enttäuschung seines Vaters nicht
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