Ein Buch für Hanna
auch an ihre Schwester Lea, die vielleicht die einzige Verwandte war, die sie noch hatte, und langsam keimte so etwas wie Zuversicht in ihr auf, ein schwaches Pflänzchen, aber sie spürte, dass es wachsen konnte.
Und dann entdeckten sie eines Tages den Namen von Rachels Vater auf der Liste der Überlebenden. Doktor Moses Goldberg, aus Leipzig. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Rachel konnte es kaum glauben. Sie setzte sich sofort hin und schrieb an den Suchdienst, den das Rote Kreuz eingerichtet hatte, an die UNRA * , an die Jewish Agency * , an die amerikanische, die britische und die französische Militärverwaltung in Deutschland. Sie musste lange auf eine Antwort warten, die Post funktionierte auch Wochen nach Kriegsende noch nicht richtig, doch endlich hielt sie einen Brief ihres Vaters in den Händen. »Er ist in einem Lager für displaced persons * in der Nähe von München«, sagte sie und wandte den Blick nicht von dem Brief. »Er hat überlebt, aber er ist noch zu schwach, eine Fahrt nach Schweden sei ausgeschlossen, schreibt er. Das heißt, dass ich zu ihm fahren muss.«
Hanna saß mit Rachel auf ihrem Bett im Schlafsaal, wie sie auch in Theresienstadt oft mit ihr auf einer Pritsche gesessen hatte. Sie spürte deutlich die Nähe zwischen ihnen, doch zugleich ahnte sie auch ihre bevorstehende Trennung. »Wie willst du hinkommen?«, fragte sie. »Die Züge fahren unregelmäßig, und man sagt, sie seien auch hoffnungslos überfüllt.«
»Ich werde es schon schaffen«, sagte Rachel. Eine Weile blieb es still, sie wischte sich eine Träne ab, bevor sie weitersprach. »Außerdem muss ich dir noch etwas sagen: Ich komme nicht mit nach Palästina.«
Hanna erschrak. »Warum nicht? Wir haben doch so lange davon geträumt. Seit Jahren haben wir über nichts anderes gesprochen.«
Rachel berührte ihre schiefe Schulter, strich sich mit den Fingern der rechten Hand über ihren verdrehten Arm. Es war eine zärtliche Bewegung, die Hanna schon oft gesehen hatte und die ihr jedes Mal ans Herz griff und sie so rührte, dass sie schlucken musste. Rachels Stimme war leise und klang wie von weit her, als sie sagte: »Für mich hat es sich ausgeträumt. Ich werde immer verkrüppelt bleiben. Ich habe es gewusst und der Arzt hier hat es mir bestätigt. Zu spät, da kann man nichts machen. Höchstens kleine Korrekturen, aber nichts Grundsätzliches.« Ihre Stimme war noch leiser geworden. Dann richtete sie sich auf und sagte laut und herausfordernd: »Sei doch ehrlich, kann ich etwa beim Aufbau eines Landes helfen? Was kann ich schon groß in Palästina tun?«
»Du könntest Lehrerin werden«, sagte Hanna unsicher, »oder Sekretärin. Es gibt doch genug andere wichtige und nützliche Arbeiten, nicht nur in der Landwirtschaft.«
Rachel schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Ich habe lange darüber nachgedacht, mein Entschluss steht fest. Ich werde wieder zur Schule gehen, in Dänemark, denke ich, und später Medizin studieren.«
»Warum?«, fragte Hanna. »Willst du das nur tun, um deinem Vater zu gefallen? Um ihm den Sohn zu ersetzen?«
Rachels Widerspruch kam vielleicht etwas zu schnell. »Milan steht auf keiner Liste«, sagte sie. »Milan kann noch immer zurückkommen. Solange er nicht auf einer Liste steht, könnte er noch am Leben sein. Genau wie meine Mutter. Und deine. Wir dürfen nicht aufhören zu hoffen.«
»Das war keine Antwort auf meine Frage«, sagte Hanna. Sie starrte auf ihre Hände, die in den letzten Wochen so glatt geworden waren, dass sie ihr noch immer fremd vorkamen.
Rachel zögerte, bevor sie antwortete: »Nein, ich glaube nicht, dass es wegen meines Vaters ist. Ich hatte es mir schon vorher überlegt, bevor ich wusste, dass er noch lebt. Ich möchte Ärztin werden, um gegen Krankheiten zu kämpfen, gegen Schmerzen. Außerdem habe ich keine große Wahl.« Wieder berührte sie ihre Schulter. »Mag sein, dass ich nicht so begabt bin wie mein Bruder Milan. Aber ich habe mir früher, in der Schule, auch keine besondere Mühe gegeben. Wozu auch, Milan war sowieso viel besser. Aber jetzt weiß ich, was ich will und dass ich es schaffen kann.« Sie schwieg und schaute Hanna an, bevor sie fortfuhr: »Außerdem glaube ich, ich bin damals nur zum Bund gegangen, weil Joschka und Mira hingegangen sind. Es war wie ein Sog. Und der Hauptgrund war vermutlich, dass ich meinen Eltern eins auswischen wollte. Sie waren immer gegen den Zionismus, sie haben an eine Zukunft in Deutschland geglaubt. Sie waren
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