Ein Buch für Hanna
schwer, sie spürte, dass sie sich nicht wirklich für das interessierte, was Schula erzählte, nicht für die anderen Mädchen, nicht für Efraim und nicht für Schula selbst.
Und als Schula nach einer kleinen Pause endlich anfing zu fragen, wie es ihnen ergangen sei, beantwortete Hanna ihre Fragen einsilbig und widerstrebend. Schula war ihr fremd geworden, als wären ihrer beider Leben durch eine unüberwindliche Kluft getrennt. Sie hatten nichts mehr miteinander zu tun. Die Zeit in Theresienstadt hatte offenbar nicht nur zu einer räumlichen Distanz zwischen ihr und allen Menschen geführt, die dieses Elend nicht miterlebt hatten, sondern auch zu einer inneren. Die alte Vertrautheit war verschwunden und stellte sich auch dann nicht wieder ein, als Schula unter Tränen berichtete, sie wisse nichts von ihren Eltern, die von Amsterdam aus in ein Lager im Osten gebracht worden seien. Ihre Brüder hätten Gott sei Dank beide überlebt, sie seien noch rechtzeitig untergetaucht.
Hanna spürte selbst, wie wortkarg sie war, und sie bewegte sich so linkisch und ungeschickt, dass sie beim Nachgießen ihre Tasse umstieß und der Kaffee auf den Boden tropfte. Verlegen, aber auch dankbar für diesen Vorwand, lief sie in die Küche, holte einen Putzeimer und einen Lappen und wischte den verschütteten Kaffee vom Boden. Ihr fiel auf, dass auch Rachel, Bella und Rosa kaum sprachen und ebenso erleichtert zu sein schienen wie sie, als Schula und ihr Mann sich verabschiedeten.
»Sie war mir so fremd«, sagte Hanna. »Ging es euch auch so?«
Rachel nickte. »Ja, irgendwie klappt es nicht mehr. Und dabei konnte ich sie früher sehr gut leiden. Ich weiß nicht, ob sie es ist, die sich verändert hat, oder ob wir nicht mehr die sind, die wir mal waren.«
»Ich finde es traurig«, sagte Bella. »Sie kann doch nichts dafür, dass sie nicht im Lager war, das kann man ihr doch nicht vorwerfen.«
»Stimmt, vorwerfen kann man es ihr nicht«, sagte Hanna, »aber trotzdem …« Ihr fiel nichts ein, womit sie ihr Unbehagen erklären konnte, und sagte schließlich hilflos: »Es ist, als wäre sie auf der einen Seite von einem Fluss und wir auf der anderen.«
»Wir müssen endlich anfangen, Brücken zu bauen«, sagte Rosa leise. »Sonst werden wir nie frei und bleiben unser Leben lang in Theresienstadt.«
Hanna warf ihr einen erstaunten Blick zu. Eine solche Überlegung und solche Worte hätte sie Rosa nicht zugetraut. Verdammt, warum hat sie früher nie etwas gesagt?, dachte sie und gab sich die Antwort sofort selbst: Wir haben sie nie nach ihrer Meinung gefragt, sie ist einfach mitgelaufen, so wie ich lange Zeit einfach mitgelaufen bin.
Ein paar Tage später kamen Schlichim * aus Palästina ins Lager, zwei braun gebrannte junge Männer und eine Frau mit Sommersprossen und karottenroten Haaren. Sie hielten Vorträge und sprachen mit den Menschen, erzählten von Kibbuzim, von vielen neuen Siedlungen und forderten alle auf, nach Palästina zu kommen, in die neue alte Heimat. Sie sagten, der einzige Schutz gegen Judenhass und Verfolgung sei es, unter Juden zu leben. Einwände, dass die britische Mandatsregierung die Einwanderung von Juden nur in sehr begrenzter Anzahl zulasse, taten sie mit einer Handbewegung ab. Die zionistische Organisation würde alte Schiffe kaufen und herrichten, sagten sie, und man würde allen, die bereit seien, sich ihnen anzuschließen, bei der illegalen Einwanderung helfen. »Wenn ihr erst an Land seid, werdet ihr an den Engländern vorbei in einen Kibbuz gebracht, wo euch keiner findet. Außerdem sind ihre Lager schon überfüllt, sie können bald keine illegal eingewanderten Juden mehr einsperren. Bis wir passende Schiffe gefunden haben, bringen wir euch nach Frankreich, in eine Hachschara, dort wird man euch auf die illegale Einwanderung vorbereiten.«
Die Schlichim sahen jung aus, kräftig, gesund und vor allem sehr selbstsicher. Es fiel Hanna schwer zu glauben, dass sie ebenfalls Juden waren. Sie hatten so wenig mit den Juden zu tun, die sie kannte. Aber die Sehnsucht nach Palästina packte sie wieder. Das Gefühl war heftiger und drängender als früher bei ihren Gesprächen im Zentrum. Was sie damals empfunden hatte, kam ihr im Nachhinein wie kindliche Schwärmerei vor, jetzt war ihr Wunsch real, körperlich spürbar. Eine Notwendigkeit. Es war die Sehnsucht nach einem Zuhause, die sie erfüllte, die Sehnsucht nach einem Leben, das nicht nur von Regeln bestimmt war, die andere aufgestellt hatten. Sie dachte
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