Ein Buch für Hanna
ganz ähnliche Hände wie Mira«, sagte sie leise. »Breite, kräftige, zupackende Hände.«
Lange blieben sie so sitzen, schweigend, in ihre Erinnerungen versunken. Erst allmählich nahmen sie das Rascheln kleiner Tiere im Laub wahr, hörten die Bäume rauschen und das Flügelschlagen von Nachtvögeln über ihren Köpfen, die lang gezogenen, unheimlichen Rufe. Sie blieben sitzen, bis alle drei Kerzen erloschen waren, dann gingen sie zurück.
Eines Tages wurde Hanna ins Büro gerufen, dort warte Besuch auf sie, sagte man ihr. Aufgeregt rannte sie los. Sie wusste, dass es nicht ihre Mutter sein konnte, das war ausgeschlossen, aber die Hoffnung, so unsinnig sie auch sein mochte, ließ sich nicht einfach zur Seite schieben. Es war nicht ihre Mutter, natürlich nicht, sie hatte es ja gewusst. Trotzdem blieb sie in der Tür stehen und kämpfte mit der Enttäuschung. Es war Schula, in einem gelben Kleid und mit hochgesteckten Haaren, die, als sie Hanna sah, von ihrem Stuhl aufsprang und sie umarmte. Hanna wurde steif, sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Das Gesicht, das jetzt so nah vor ihrem war, kannte sie gut, doch es schien aus einer anderen Welt zu kommen. Hanna hatte das seltsame Gefühl, als wäre sie aus der Zeit gefallen. Alles kam ihr falsch vor.
»Hanna«, sagte Schula und weinte laut, »ach, Hanna.«
Ein Mann trat zu ihnen. Hanna erkannte Jakob Korn, Schulas Ehemann, den sie nur ein- oder zweimal gesehen hatte. Er war kleiner als in ihrer Erinnerung und dicker war er auch. Unbeholfen hielt er ihr die Hand hin und zog sie verlegen zurück, als Hanna sie nicht ergriff. »Wir konnten jetzt erst kommen«, sagte er, »aber Schula hat die ganze Zeit von nichts anderem gesprochen, seit sie erfahren hat, dass du lebst.«
»Wir haben uns solche Sorgen um euch gemacht«, sagte Schula. »Und wir waren so glücklich, als wir hörten, dass ihr am Leben seid.«
»Mira nicht«, sagte Hanna.
Schula zog ein weißes Taschentuch aus ihrer Jackentasche und putzte sich umständlich die Nase. »Ja, ich weiß.« Sie wischte sich die Tränen ab. Hanna betrachtete sie, als wäre sie innerlich ein paar Schritte zurückgetreten. Diese Frisur macht ihren Kopf nicht größer, dachte sie, und ihre Hüften sind noch breiter geworden als früher. Und warum trägt sie ein gelbes Kleid? Weiß sie denn nicht, dass ihr Blau viel besser steht?
Rachel, Bella und Rosa kamen nun auch. Schula wurde blass, als sie Rachels verkrüppelte Schulter sah, und wandte schnell den Kopf ab. Aber Hanna hatte ihren Blick gesehen, und an Rachels spöttisch verzogenem Mund war zu erkennen, dass er auch ihr nicht entgangen war. Schließlich saßen sie an einem der Tische im Aufenthaltsraum, tranken den bitteren schwarzen Kaffee, der ihnen aus der Küche gebracht wurde, und knabberten lustlos an den trockenen Keksen, nur um etwas zu tun zu haben.
Schula redete und redete, die Wörter strömten unaufhörlich aus ihrem Mund und füllten den Raum. Hanna hatte das Gefühl, in der Flut von Wörtern und Sätzen, von Seufzern und schnappenden Atemzügen zu ertrinken. Es war, als wollte Schula jeder Möglichkeit ausweichen, Fragen stellen zu müssen, als wollte sie nicht mal den Gedanken an mögliche Fragen aufkommen lassen. Sie erzählte von ihrem kleinen Sohn, der Karol hieß und den sie und ihr Mann für zwei Tage zu ihren Schwiegereltern gebracht hatten, die überglücklich waren über diesen Enkel. »Wir wohnen jetzt noch in Göteborg«, sagte sie, »aber wir haben vor, bis Ende des Jahres nach Dänemark zurückzukehren, zusammen mit Kobis Eltern und mit Inger und ihrem Mann.«
Dann beschrieb sie ausführlich ihr Leben als Mutter und berichtete von den anderen Mädchen der Gruppe, die damals, bei der großen Aktion gegen die dänischen Juden, alle gerettet und mit Fischerbooten nach Schweden gebracht worden waren. »Rebekka hat dieses Jahr Abitur gemacht und will studieren, Psychologie oder Soziologie, Ruthi und Towa warten auf eine Möglichkeit, nach Palästina auszuwandern, Eva macht eine Ausbildung als Krankenschwester, und Elisabeth hat sich mit einem Schweden verlobt, einem anständigen jungen Mann, der in einem großen Anwaltsbüro arbeitet. Und Efraim hat eine junge Lettin mit einem Zertifikat * nach Palästina geheiratet, letzte Woche sind sie abgereist, vielleicht sind sie ja schon angekommen.«
Hanna hörte zu und dachte: Warum erzählt sie das alles? Merkt sie nicht, dass es nichts mit mir zu tun hat, nichts mit uns? Das Zuhören fiel ihr
Weitere Kostenlose Bücher