Ein dunkler Ort
Noten als ich!«
»Vielleicht hat es am psychologischen Test gelegen«, hatte Tracy gesagt. »Oder es war das Gespräch. Möglicherweise mochte die Frau mich einfach nicht.«
»Das ist doch lächerlich. Jeder mag dich. Abgesehen davon, hast du alles über ihre Kunstsammlung gewusst. Du konntest dich mit ihr über den Vermeer unterhalten, den sie entdeckt hat. Und dann hat sie dich bei jeden zweiten Atemzug ›cherie‹ genannt. Dich mochte sie lieber als mich.«
»Na, dann nenn du mir einen Grund.« Tracy zuckte gottergeben die Schultern. »Ich hab’s eben nicht geschafft, so ist das nun mal. Also geh ich wieder an unsere alte Schule zurück und du gehst nach Blackwood. Allerdings erwarte ich, massenhaft SMS und Anrufe von dir zu kriegen.«
»Kannst dich drauf verlassen«, hatte Kit versprochen. »Aber noch ist nicht alles zu spät, vielleicht kann ich Mom ja ausreden, mich dahin zu schicken.«
Nun, mittlerweile war es zu spät. Hier lag sie also auf Samt gebettet und schaute hoch in noch mehr Samt, während draußen vor dem Fenster die Dämmerung hereinbrach und es im Zimmer immer schummeriger wurde.
Kurz entschlossen holte sie ihr Handy heraus und wählte Tracys Nummer. Die Meldung »Kein Netz« tauchte auf dem Display auf. Pech. Aber sie war ja auch mitten im Nirgendwo.
Kit hätte am liebsten losgeschrien. Aus Frust. Sie würde sich aufs Schreiben von E-Mails beschränken müssen. Internet hatten sie ja wohl in dieser Schule.
Ich sollte auspacken , dachte Kit, und meinen Computer installieren . Aber sie rührte sich nicht. Sie fühlte sich so schläfrig und schwer, eine seltsame Traurigkeit lag auf ihr, für die sie keine Erklärung fand.
Es klopfte an der Tür. Jemand sagte: »Miss Kathryn?«
»Ja?« Mit einem Ruck kam Kit ins Leben zurück. Schuldbewusst schob sie die Füße über die Bettkante, damit ihre Schuhe den Überwurf nicht mehr berührten. »Ja … was ist denn?«
»Abendessen, Miss.« Das war unverkennbar die Stimme von Lucretia. »Die anderen sind bereits unten.«
»Oh, danke. Ich hab wohl das Zeitgefühl verloren.« Sie schob die Beine noch weiter über die Bettkante und setzte sich auf. Erstaunt stellte sie fest, dass sich das Dämmerlicht draußen im Laufe eines Augenblicks in tiefste Finsternis verwandelt hatte. Es war sehr dunkel im Zimmer.
Sie tastete nach der Nachttischlampe, fand den Schalter am Sockel und drückte drauf. Das Licht ging an und Schatten sausten an der gegenüberliegenden Wand hoch.
Hier fehlt die Deckenbeleuchtung , dachte Kit. Sie stand auf. Man kann es auch übertreiben mit der altmodischen Idylle.
Sie ging zum Schreibtisch und knipste die Tischlampe an. Das half ein wenig. Eigentlich müsste sie raus aus den von der Reise zerknitterten Kleidern und sich etwas anderes anziehen, aber da das Essen schon wartete, war es vermutlich das Beste, sich diese Zeit nicht auch noch zu nehmen. Als Kompromiss wusch sie Hände und Gesicht besonders gründlich und kämmte sich die dicke blonde Mähne.
Das Gesicht, das sie aus dem Badezimmerspiegel heraus ansah, war nicht im herkömmlichen Sinne hübsch. Der Mund war ein bisschen zu groß, das Kinn zu kantig. Aber die grauen Augen schauten klar und freundlich drein und die Wangen hatten einen rosigen Hauch, denn sie war vital und kerngesund. Es war ein sympathisches Gesicht, das Kit eigentlich nur dann wirklich wahrnahm, wenn ihr die zunehmende Ähnlichkeit mit ihrem Vater auffiel.
Sie ließ das Licht in ihrem Zimmer an, trat auf den Flur hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Sofort befand sie sich in einem Tunnel der Finsternis. Der Flur war nahezu unbeleuchtet, wenn man von einer einzelnen Glühbirne absah, die am Kopf der Treppe in einer Milchglaskugel hing. Langsam ging Kit darauf zu und sah zu ihrem Erstaunen, wie sich ihr eine schlanke blasse Gestalt näherte, die aus der Wand hinter der Treppe hervorzukommen schien.
Sie blieb stehen, die Gestalt auch. Sie machte einen zögerlichen Schritt nach vorn, und plötzlich begriff sie, dass sie ihr eigenes Spiegelbild sah, in dem Spiegel über der Treppe. »Der war gut, Kit«, sagte sie laut. »Nächstes Mal siehst du bestimmt Vampire.«
Sie legte die Hand auf das glatte Mahagonigeländer und ging runter in den unteren Flur. Der war gut beleuchtet, und obwohl hier niemand war, konnte sie Stimmen und das Klirren von Glas und Besteck aus einem der angrenzenden Räume hören. Sie ging den Geräuschen nach den Gang entlang zur Tür des Esszimmers und schaute hinein.
Der Raum
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