Ein dunkler Ort
Mensch sein, den Kit sich selbst als Stiefvater ausgesucht hätte, aber wenn ihre Mutter ihn liebte, dann war alles andere unwichtig. Und gerechterweise musste man anmerken, dass kein Mann, den ihre Mutter zum zweiten Ehemann gewählt hätte, Kits hundertprozentige Zustimmung gefunden hätte. Sie war ihrem Vater sehr nah gewesen und niemand würde je seinen Platz einnehmen können.
Kit war der letzte Mensch gewesen, der ihn gesehen hatte. Niemand hatte ihr das geglaubt, aber es war die Wahrheit. Damals war sie sieben Jahre alt gewesen, sie war nachts aufgewacht und ihr Vater hatte am Fußende ihres Bettes gestanden und auf sie herab geschaut. Obwohl es dunkel gewesen war im Zimmer, hatte sie ihn deutlich sehen können, wie er den Kopf zur ihr runter gebeugt hatte, seine grauen Augen, den wehmütigen Blick, und dieses Gesicht, in dem sich alle Liebe dieser Welt spiegelte. Kit hatte sich auf die Ellenbogen aufgestützt und ihn angestarrt.
»Dad?«, hatte sie gesagt. »Was machst du denn hier? Ich dachte, du bist auf Geschäftsreise in Chicago.«
Als er keine Antwort gab, fing sie an zu zittern, plötzlich merkte sie, wie kalt es im Zimmer geworden war, obwohl fast Sommer war. Sie legte sich aufs Kissen zurück, zog die Decke bis ans Kinn und ließ die Augen eine ganz kleine Weile zufallen. Als sie sie wieder aufschlug, war es Morgen geworden, das Sonnenlicht strömte durch die Fenster und malte goldene Muster auf den Teppich.
Sie stand auf und zog Shorts und ein T-Shirt an, dann ging sie nach unten. Das Haus war voller Leute.
Eine ihrer Tanten kam auf sie zu, legte den Arm um sie und sagte: »Armes Schätzchen. Armes, liebes Kleines.«
»Was ist denn?«, fragte Kit. »Was ist passiert?« Ihr Blick fiel auf die Gruppe Menschen vor ihr. »Warum weint Mom?«
»Dein Vater, Liebes …«, sagte die Tante. »Letzte Nacht hatte er einen Unfall und deine Mutter ist erst heute früh benachrichtigt worden. Er war in einem Taxi, auf dem Weg zurück zu seinem Hotel, als der Fahrer ein Stoppschild überfahren hat …«
»Aber das kann nicht wahr sein«, unterbrach Kit sie verstört. »Er war letzte Nacht hier. Ich habe ihn gesehen. Er ist in mein Zimmer gekommen.«
»Du hast geträumt, Schatz«, sagte ihre Tante sanft.
»Hab ich nicht«, behauptete Kit. »Ich war wach. Dad war hier. Ich hab ihn gesehen.« Quer durch den Raum rief sie ihrer Mutter zu: »Daddy ist doch gestern Nacht nach Hause gekommen, oder? Du musst ihn doch vom Flughafen abgeholt haben, Mom …?«
Das Gesicht ihrer Mutter war weiß und verzerrt vor Kummer, aber sie kam sofort zu Kit und nahm sie in die Arme.
»Ich wünschte, es wäre so, Süße«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Wenn es doch nur so gewesen wäre.«
Im darauffolgenden Jahr gab es viele Veränderungen in ihrem Leben.
Kits Mutter, die vorher nie berufstätig gewesen war, belegte einen Kurs an einer Fachhochschule und fand danach eine Anstellung als Sekretärin in einer Kanzlei. Sie verkaufte das Haus … »Die Unkosten sind so hoch, die kann ich nicht tragen«, sagte sie, »und ich schaffe es auch nicht, den Garten allein in Ordnung zu halten« … und sie mietete eine Wohnung in der Stadt, nicht weit von dem Büro entfernt, in dem sie arbeitete.
Kit wusste, dass es nicht leicht gewesen war. Ihre Mutter war eine hübsche, lebhafte Frau, und so sehr sie ihre Tochter auch liebte, es musste in ihrem Leben trotzdem eine Leere gegeben haben, ein schreckliches Verlangen nach erwachsener Gesellschaft. Das war besonders deutlich geworden, als sie Dan gefunden hatte, denn da hatte ihre Stimmung sich total geändert.
Mom ist jetzt glücklich – und ich werde es auch sein , sagte Kit sich, sie war fest dazu entschlossen. Aber sie konnte dieses Gefühl nicht vergessen, das sie auf der Auffahrt überkommen hatte, dieser plötzliche eisige Schauer des Bösen – als ob eine Wolke sich vor die Sonne geschoben hätte.
Wenn Tracy bei ihr gewesen wäre, hätten sie darüber gelacht. Sogar der scharlachrote Baldachin wäre zum Witz geworden. Wahrscheinlich hätte Tracy vorgeschlagen, Glöckchen dranzuhängen, damit sie vom Gebimmel wach wurden, sollte das Ding nachts angreifen wollen. Tracy Rosenblum war vernünftig, schlau und witzig, und sie hatten beide nicht damit gerechnet, dass sie nicht in Blackwood aufgenommen werden würde. Als die Nachricht gekommen war, hatte Kit es nicht glauben können.
»Aber du bist eine der Klassenbesten!«, hatte sie ungläubig gesagt. »Du bekommst immer bessere
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