Ein Earl mit Mut und Leidenschaft
setzen und spielen.
Dass sie die Bühne mit drei weiteren jungen Damen teilen sollte, war ein kleiner Trost. Die anderen Musikerinnen - Mitglieder des berüchtigten Smythe-Smith-Quartetts - spielten Saiteninstrumente, mussten dem Publikum also direkt gegenübertreten. Anne konnte sich zumindest tief über ihre elfenbeinernen Tasten beugen. Mit etwas Glück würden sich die Zuhörer so sehr in die schreckliche Musik vertiefen, dass sie die dunkelhaarige Frau gar nicht beachten würden, die in letzter Minute den Platz der Pianistin eingenommen hatte. Die Pianistin war (wie es deren Mutter jedem mitteilte, der ihr zuhörte) furchtbar - nein, höchst bedrohlich - erkrankt.
Anne glaubte keinen Augenblick, dass Lady Sarah Pleinsworth krank war, aber es gab nichts, was sie deswegen hätte tun können, nicht wenn sie ihre Stellung als Gouvernante von Lady Sarahs drei jüngeren Schwestern behalten wollte.
Lady Sarah hatte ihre Mutter jedoch überzeugen können, und diese hatte entschieden, dass die Vorstellung keinesfalls ausfallen sollte. Und nachdem sie einen erstaunlich detaillierten Abriss der siebzehnjährigen Historie der Smythe-Smith’schen musikalischen Soiree abgeliefert hatte, hatte sie erklärt, dass Anne den Platz ihrer Tochter übernehmen würde.
„Sie haben mir einmal erzählt, dass Sie Mozarts erstes Klavierkonzert bereits in Auszügen gespielt haben“, hatte Lady Pleinsworth sie erinnert.
Das bedauerte Anne nun zutiefst.
Es schien vollkommen unwichtig zu sein, dass Anne das fragliche Stück in den letzten acht Jahren kein einziges Mal mehr gespielt hatte und noch nie zur Gänze. Lady Pleinsworth war taub für jegliche Einwände gewesen, und so war Anne schließlich zu Lady Pleinsworths Schwägerin gefahren worden, wo das Konzert stattfinden sollte. Sie hatte acht Stunden zum Üben gehabt.
Es war absurd.
Der einzige Trost bestand darin, dass das übrige Quartett so miserabel spielte, dass Annes Fehler kaum auffielen, wie sie erleichtert während der Proben hatte feststellen können. Ihr erklärtes Ziel für diesen Abend lautete, nicht aufzufallen. Denn das wollte sie wirklich nicht. Auffallen. Aus einer ganzen Reihe von Gründen.
„Gleich ist es so weit“, flüsterte Daisy Smythe-Smith aufgeregt.
Anne lächelte ihr zu. Daisy war anscheinend nicht klar, dass sie lausig spielte.
„Was für eine Freude“, sagte Daisys Schwester Iris mit ausdrucksloser, matter Stimme. Sie wusste Bescheid.
„Kommt schon“, sagte Lady Honoria Smythe-Smith, ihre Cousine. „Es wird ganz wunderbar sein. Wir sind eine Familie.“
„Na, sie gehört aber nicht dazu“, meinte Daisy und nickte zu Anne hinüber.
„Heute Abend schon“, entgegnete Honoria. „Noch einmal vielen Dank, Miss Wynter. Sie sind wirklich unsere Rettung.“
Anne murmelte etwas Unverständliches, da sie sich wirklich nicht dazu durchringen konnte, den anderen zu versichern, es mache ihr keinerlei Umstände oder es sei ihr gar ein Vergnügen. Sie mochte Lady Honoria recht gern. Im Gegensatz zu Daisy war ihr durchaus bewusst, wie schlecht sie spielten, doch anders als Iris wollte sie trotzdem auftreten. Honoria beharrte darauf, dass es nur um die Familie gehe. Um die Familie und um die Tradition. Siebzehn Konzerte des Smythe-Smith-Quartetts waren bereits gegeben worden, und wenn Honoria es entscheiden könnte, würden ihnen siebzehn nachfolgen. Wie ihre Musik klang, war vollkommen nebensächlich.
Iris stöhnte lustlos.
Honoria stupste ihre Cousine mit dem Geigenbogen an. „Familie und Tradition“, mahnte sie Iris. „Darum geht es.“
Familie und Tradition. Dagegen hatte Anne nichts einzuwenden. Obwohl ihre Erfahrungen diesbezüglich alles andere als erfreulich waren.
„Kannst du etwas sehen?“, erkundigte sich Daisy bei Honoria. Sie hüpfte von einem Fuß auf den anderen, wie eine überdrehte Elster, und Anne war schon zwei Mal zurückgewichen, um ihre Zehen in Sicherheit zu bringen.
Honoria, die näher zur Bühne stand als die anderen, nickte. „Ich sehe ein paar leere Plätze, aber nicht viele.“
Iris stöhnte wieder.
„Ist es immer so?“, konnte Anne sich nicht verkneifen zu fragen.
„Wie?“ Honoria sah sie offen und freundlich an.
„Nun ja, ähm ...“ Manche Dinge konnte man zu den Nichten seiner Dienstherrin einfach nicht sagen. Zum Beispiel verbreitete man sich nicht über die mangelhaften musikalischen Fähigkeiten dieser jungen Damen. Man fragte sich auch nicht laut, ob die Konzerte immer so schrecklich waren oder
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