Ein Elefant im Mückenland
Ostdeutschland, an die damalige DDR, verkauft, wo es noch kein Auftrittsverbot für Zirkustiere gab. Lucia bot auch Emilia zum Kauf mit an, aber die wollte man in Ostdeutschland nicht haben. Warum nicht? Als ein Vertreter des staatlichen Zirkus der DDR erschien, um sich Pepita und Emilia anzusehen, verärgerte er Letztere damit, dass er sie mit lauter Stimme auf ihr Strohbett zwang und mit sachkundigen Griffen ihre Geschlechts-organe und ihr Bauchfell abtastete, um sich über ihren Gesundheitszustand zu informieren. Sowie Emilia wie-der auf den Beinen war, drückte sie sich in die Ecke ihres Verschlages und zeigte in jeder Weise, dass sie beleidigt war, unter anderem pinkelte sie den Deutschen an und trompetete einen schrillen Hilferuf in sein Ohr.
Pepita, ein altes erfahrenes Zirkustier, ließ sich hin-gegen bestens verkaufen. Für Emilia bedeutete das die Trennung von ihrer Mutter; zwar erkannte sie die Trag-weite des Ereignisses nicht, dennoch war ihr restliches Leben besiegelt: Sie war jetzt eine Elefantenwaise und hatte, wie es schien, nur eine einzige wirkliche Freun-din: Lucia Lucander.
Direktor Werneri Waistola bedauerte das Geschehene. Er konnte Emilia nicht mehr auf die Tourneen mitneh-men, da man sie, dem Gesetz zufolge, nicht länger zum Zwecke des Gelderwerbs vor Publikum vorführen durfte. Als Haustier war sie für einen wandernden Zirkus zu groß, und schließlich erwähnte Werneri noch, dass man dasselbe eigentlich von seiner Frau sagen konnte. Emmi beherrschte so gut wie keine Kunststücke, sie lag nur den lieben langen Tag im Wohnwagen auf dem Sofa und las Klatschblätter, und abends war sie vom Genuss süßen Likörs bereits so betrunken , dass nicht daran zu denken war, sie in die Manege zu lassen, jedenfalls nicht allein. Werneri ließ unerwähnt, dass er, wenn es hart auf hart käme, lieber den Elefanten als seine Frau mit auf Tournee nähme.
Lucia Lucander wandte sich in ihrer Not an Zirkusun-ternehmen in ganz Europa, aber da es in der Region ein Überangebot an ausgemusterten Elefanten gab, war niemand an der jungen Emilia interessiert. Schließlich kam sie auf die Idee, an den Großen Moskauer Zirkus zu schreiben und hatte sofort Erfolg. In der damaligen Sowjetunion herrschte immer noch ein politischer und moralischer Stillstand, auch wenn so mancher Zeitge-nosse bereits große Veränderungen prophezeite.
Kurz und gut, Lucia und Emilia reisten im Zug nach Moskau, wo sie Lohn und Brot im weltberühmten Zirkus dieser Stadt fanden. Große Stars wurden die beiden allerdings nicht: Emilia war zu jung und unerfahren und beherrschte die Gebärdensprache der Elefanten nicht in dem Maße, wie man es erwartete. Und Lucia durfte, entgegen ihren Wünschen, nicht aufs Trapez klettern. Sie hatte nicht die entsprechende Ausbildung, und ohne die war in dem berühmten Zirkus keine Karriere zu machen. Lucia war eine schöne und attraktive Frau, aber ihr Äußeres erregte eher Neid bei den Kolleginnen, und so musste sie sich damit begnügen, zwei Mal pro Abend Emilia zusammen mit den anderen Elefanten vorzuführen.
Die Jahre vergingen. Emilia wuchs und verlor ihre kindlichen Züge, mit denen sie bisher das anspruchsvol-le Publikum gerührt hatte. Es war Zeit, sich nach etwas anderem umzusehen. Lucia machte sich nach Tsche-tschenien, Kasachstan, Turkmenien und Armenien auf den Weg.
Im Kaukasus waren die Bedingungen zuweilen recht hart. Beim Überqueren einer Kalmückensteppe mussten Lucia und Emilia wegen des Wassermangels ums Über-leben kämpfen. Elefanten verstehen es jedoch auf be-merkenswerte Weise, mit tödlichem Durst fertig zu werden. Emilia steckte ihren Rüssel in die Erde und saugte Flüssigkeit auf, die sie sich in die Ohren spritzte, sodass sie ihren Weg fortsetzen konnte. Der tagelange Marsch endete schließlich glücklich in einem kleinen turkmenischen Dorf, dessen freundliche Bewohner den seltsamen Wanderern zu essen und zu trinken gaben.
Zwei Jahre lang kamen die beiden in den mittelasiati-schen Sowjetrepubliken halbwegs über die Runden. Dann brachen in der Region Unabhängigkeitskriege aus, und da wurde dann für eine alleinstehende Frau und erst recht für einen Elefanten die Luft dünn. Hinzu kam, dass die Leute dort einen Elefanten nicht sonderlich exotisch fanden, was sich zum Beispiel daran zeigte, dass Lucia mehrfach Kaufangebote für Emilia bekam – zwecks Schlachtens.
Um ihren Lebensunterhalt zu sichern, mietete Lucia von der sowjetischen Staatsbahn einen großen Viehwa-gen,
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