Ein Elefant im Mückenland
sie, seine Frau zu werden. Um seinem Vorschlag den nötigen Nach-druck zu verleihen, fiel er vor ihr auf die Knie, ergriff ihre Hand und sang mit bebender Stimme zwei der gefühlvollsten Kosakenlieder aus seinem Repertoire.
Lucia war überrascht. Hatte der Kerl den Verstand verloren? Er war bereits in mittleren Jahren, besaß kaum eine Ausbildung oder Sprachkenntnisse und war ein schäbiger Zugdiener gewesen, bevor sie sich begeg-net waren. Und jetzt plante er, mit seiner Wohltäterin die Ehe einzugehen.
Das Angebot an sich gefiel ihr durchaus. Nach Art der Frauen war sie von dem Antrag geschmeichelt, auch war Igor ein selten gut aussehender Mann, vor allem in seiner neuen Kosakenkluft. Er hatte einen anständigen Charakter, war nach russisch-polnischer Art schwermü-tig und konnte im Bedarfsfall forsch und herrisch auf-treten wie ein Kosak. Alles in allem war er durchaus nicht übel! Trotzdem konnte sie sich nicht ernsthaft vorstellen, ihren Diener zu heiraten. Sie war eine junge finnische Frau und hatte andere Pläne, als an der Seite eines als Kosaken verkleideten leidenschaftlichen Man-nes und eines Trepak tanzenden Elefanten in einem fremden Land zu leben. Außerdem war die Sowjetunion dabei, zu zerfallen. Es hieß allgemein, dass man die Kommunisten über kurz oder lang in Sträflingslager sperren würde, damit sie darüber nachdenken konnten, welche Schreckensherrschaft sie während der letzten siebzig Jahre geführt hatten.
Igor hielt Lucias Zögern für weibliche Ziererei und ließ sich davon nicht beirren oder gar die Glut seiner Gefüh-le ersticken. Er glaubte fest daran, das Herz der blonden Schönen aus Finnland erobern zu können, wenn er ihr nur erst sein schönes Heimatdorf, seine große Ver-wandtschaft und vor allem die ganze slawische Kraft und das Ausmaß seiner Liebe zeigen könnte.
Lucia stellte fest, dass sie jetzt, da für sie alles wirk-lich gut lief, großes Heimweh bekam, richtige Sehnsucht nach ihrer finnischen Heimat. Dorthin würde sie fahren, wenn die Sowjetunion tatsächlich zerfallen und ein großer Krieg ausbrechen würde, oder viele lokale Kriege, wie gemunkelt wurde. Mit Igor konnte sie unmöglich gehen. Kosakenlieder würden sie auf die Dauer nicht ernähren, das wusste sie. Und sie beabsichtigte auch nicht, noch im Alter als Frau eines Russen und Mutter von zehn Kindern mit dem Elefanten Trepak zu tanzen.
Andererseits erschien ihr eine Reise in Igors Heimat-dorf durchaus überlegenswert. Wenn es dort wirklich so paradiesisch war, wie er behauptete, könnten sie eine ganze Woche dort verbringen. Emilia würde tanzen, und man würde ein großes Fest feiern, wie Igor beflissen versprochen hatte. Der ehemalige Zugdiener hatte sich außerdem entwickelt und war ein durchaus akzeptabler Reisegefährte.
EIN SCHLAFENDES SIBIRISCHES DORF ERWACHT ZUM LEBEN
Der Gedanke an die Hochzeit ließ Igor den ganzen Som-mer nicht los. Er schrieb nach Hause, ins zentralsibiri-sche, nur tausend Einwohner zählende Hermantowsk und berichtete, dass er es zu Erfolg gebracht habe und für ein paar Tage mit seiner Braut, einer berühmten finnischen Zirkusprimadonna, nach Hause kommen wolle. Er gab seiner alten Mutter zu verstehen, dass sie ein großes Fest arrangieren könnte, denn er beabsichti-ge zu heiraten.
Igors Mutter war fast siebzig, aber noch sehr rüstig. Als sie den Brief gelesen hatte, beschloss sie, umgehend mit den Hochzeitsvorbereitungen zu beginnen. Sie ver-breitete die Nachricht vom Erfolg, den ihr Sohn draußen in der Welt gehabt hatte, und alle Frauen des Dorfes waren sofort begeistert. Seit Ewigkeiten hatte man nicht mehr anständig gefeiert. Der versoffene Vorsitzende des Exekutivkomitees hatte vor anderthalb Jahren die Ge-meindekasse unterschlagen und sich damit abgesetzt, und seither hatte es keine öffentlichen Veranstaltungen mehr gegeben. Nun, die Revolutionsfeiern hatten im Laufe der Jahrzehnte ohnehin ihren zündenden Charak-ter verloren. Es gab kaum noch jemanden, der mit klop-fendem Herzen hinter der roten Fahne hermarschieren wollte.
Die jungen Mädchen des Ortes waren zum Studium oder zur Arbeit nach Krasnojarsk gegangen, die mutigs-ten bis nach Moskau, und so gab es kaum heiratsfähige Frauen für die Männer des Dorfes. Diese wiederum hatten in ihrer Einsamkeit zu trinken angefangen, so-dass viele bereits in jungen Jahren am Wodka starben, und jene, die am Leben blieben, waren auch nicht gera-de gefragt als Ehepartner. Man hatte zuletzt vor einem Jahr im Dorf
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