Ein Elefant im Mückenland
saugen zu können. Der drei-eckige, haarige, hellrote Mund des Kleinen umschloss fest die Zitze. Pepita legte ihren Rüssel auf den Rücken des Babys und zeigte so, dass sie es angenommen hatte.
Pflegerin Lucia Lucander saß auf einem Strohhaufen und beobachtete, wie sich Mutter und Kind schnaubend miteinander vertraut machten. Sie überlegte, welchen Namen sie dem Neugeborenen geben sollte. Da es ein Weibchen war, könnte sie es Emilia nennen, so hieß die Frau des Zirkusdirektors, allerdings wurde sie Emmi genannt.
Direktor Werneri Waistola erhob sich von seiner La-gerstatt neben Emmi und kam in den Stall, um den Neuankömmling zu begrüßen, unter dem Arm trug er eine Champagnerflasche. Werneri zog aus den Taschen seiner Pyjamajacke zwei Gläser, und dann stieß er mit Lucia zünftig auf das Wohl des Elefantenbabys an.
Emilia saugte in einstündigem Abstand begierig Pepi-tas Milch in sich hinein und begann zu wachsen, sie nahm ein Kilo pro Tag zu. Nach zwei Wochen klaubte sie zum ersten Mal mit ihrem Mund Körner und Kotfladen ihrer Mutter vom Boden. Pfui, aber der unverdaute Dung enthielt wertvolle Mineralien. Im Alter von vier Monaten nahm sie bereits täglich feste Nahrung zu sich, hauptsächlich Halme und gekochte Kartoffeln, und im Sommer bekam sie frisches Heu. Als sie ein halbes Jahr alt war, fraß sie dasselbe wie die erwachsenen Elefan-ten. Lucia begann, ihr die ersten Kunststücke beizu-bringen. Emilia musste still dastehen und mit dem Rüssel einen langen Stab halten, an dessen Ende die finnische Fahne befestigt war. Wenn sie dann den Kopf schwenkte, begann die Fahne zu wehen, und die Zu-schauer riefen hurra und applaudierten der angehenden Künstlerin.
Emilia hatte als kleines Elefantenkind Schwierigkei-ten. Sie konnte nicht mit dem Rüssel trinken, sondern musste sich vor dem Wassereimer auf die Knie nieder-lassen und das Wasser mit dem Mund herausschlürfen. Eine schwierige Angelegenheit, aber nach vielen Versu-chen begriff sie schließlich, dass das Trinken mit dem Rüssel bequemer war. Sie saugte ihn voll Wasser, hob ihn dann hoch und ließ das Wasser in den Mund rin-nen. Es war letztlich ganz einfach.
Emilia lernte, den Rüssel auch für andere Dinge zu benutzen, er war wie der Arm eines geschickten Men-schen. Mit dem Rüssel konnte man schwere Gegenstän-de transportieren, aber er war auch sensibel genug, dass man damit winzige Heuhalme auflesen oder eine Spinne aus ihrem Netz saugen konnte.
Als Emilia sieben Monate alt war, trat in Finnland ein neues Gesetz in Kraft. Ach, welch ein Elend! Am 12. September 1986 geschah es. Wilde Tiere durften nicht mehr zur Schau gestellt werden, nicht einmal im Zirkus. Man durfte keinen Nutzen aus ihnen ziehen, nicht an ihnen verdienen. Das bedeutete die Vertreibung der Elefanten aus diesem nordischen Land. Viele alters-schwache Dickhäuter wurden geschlachtet, der Rest wurde an Länder verkauft, in denen kein entsprechen-des Verbot galt, sodass sie in ihren letzten Lebensjahren dort noch auftreten konnten. Es war dasselbe, wie wenn man alte Schauspieler aus menschenfreundlichen Gründen in Rente geschickt hätte. Bei den Elefanten nannte sich das Tierschutz, denn sie sind ja keine Men-schen, wenngleich in jeder Hinsicht Charakterdarsteller.
Nun lebte aber in diesem nordischen tierfreundlichen Land die muntere Emilia, deren Pflegerin es nicht übers Herz brachte, ihren Zögling ins Ungewisse zu schicken. Ein einsames Tierkind kann weder im Dschungel noch im Tierpark ohne Mutter überleben. Lucia Lucander alias Sanna Tarkiainen beschloss, ihren willigen Zögling, jetzt bereits tausendzweihundert Kilo schwer, anständig zu erziehen, was ihr auch gelang. Sie kündigte ihren Job als Tierpflegerin beim Suomi-Zirkus und führte ihren Schützling mit sanfter Hand durch die Stürme des Lebens, die die Tierfreunde, an sich mit guter Absicht, verursacht hatten. Besser ein toter Elefant als ein lei-dender Dickhäuter, das war der Geist der Zeit.
Lucia beantragte beim Ministerium für Land- und Forstwirtschaft eine Sondergenehmigung, die es ihr erlauben sollte, Emilias Künste hin und wieder vor Publikum zu zeigen, doch ihr Antrag wurde abgelehnt. Im Gegenteil, einige Zeitungen nahmen das Thema auf und kritisierten, dass Lucia Lucander, ein ehemaliger Star des Suomi-Zirkus, die Stirn hatte, sich weiterhin als Dompteuse zu betätigen, obwohl es gesetzlich verbo-ten war, Tiere zum Zwecke der Unterhaltung einzuset-zen. Zur gleichen Zeit wurde Emilias Mutter Pepita nach
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