Ein Elefant im Mückenland
Ziehharmonika, die er einigermaßen beherrschte. Auf den langen Zugreisen spielte er Emilia alte russische Volksweisen vor, auch ein paar schwermütige Walzer, einige Marschlieder und speziell zwei, drei flotte Trepakstücke. Emilia wurde mit den Klängen vertraut und lauschte ihnen gern. Ihr Rüssel schlängelte sich wie eine indische Kobra beim Pfeifenspiel des Schlangenbeschwörers, und die großen Ohren wedelten im Takt von Igors Spiel hin und her.
In dem Waggon, der über die Schienen der sibirischen Eisenbahn donnerte, war an Tanzunterricht für die Elefantendame nicht zu denken. Die Schülerin, die mehrere Tonnen wog, hätte den Viehwagen unter Um-ständen demoliert, wenn sie beim Einstudieren der Schritte gegen die Wände getaumelt wäre. Im schlimms-ten Falle hätte der ganze Zug entgleisen können. Rei-sende wären zu Tode gekommen, und Unmengen von Gütern hätten sich über die Landschaft verteilt. Aber bei den Aufenthalten auf den Stationen führte Igor die Elefantendame auf die stabilen Bahnsteige oder oft auch hinter die Stationsgebäude auf die betonierten Rangier-bahnhöfe. Emilia lauschte den vertrauten Rhythmen und legte im Takt dazu wilde Tänze hin. Sie stampfte mit ihren Hinterbeinen auf den Boden, dass die ganze Umgebung bebte, sie drehte sich nach den Klängen der Musik, hockte sich mit dem Hinterteil fast auf den Bo-den und beschrieb mit dem langen Rüssel einen weiten Bogen in der Luft. Sie begann aus eigenem Antrieb auch zu juchzen, so wie Igor. Mit ihrem Gejuchze trieben sich die beiden zu immer wilderen Tänzen an. Emilia war die geborene Schauspielerin, sie war intelligent und hatte ein natürliches Bedürfnis, sich zu produzieren. Nach einem halben Jahr beherrschte sie sämtliche Melodien, die Igor spielte, und sie war bestimmt der beste tanzen-de Elefant der Welt.
Seit Emilia Kosakentänze beherrschte, wurde sie nur noch populärer. Zu den Vorstellungen kamen oft Hun-derte von Leuten, und in den größeren Städten wie etwa Irkutsk versammelten sich sogar mehr als zweitausend zahlende Zuschauer. Auf den Plätzen herrschte Riesen-stimmung. Oft fing auch das Publikum an zu tanzen, und aus den Veranstaltungen wurden ausgelassene Volksfeste.
Zu Beginn der Vorstellungen ritt Lucia auf Emilia stets ein paar Runden vor dem Publikum, so wie sie es in der Manege des Großen Moskauer Zirkus gelernt hatte. Dann folgten verschiedene Kunststücke: Emilia warf Lucia und Igor mit dem Rüssel farbige Reifen zu, sie nahm eine lange Stange in den Mund und schwenkte die Fahnen, die an beiden Enden befestigt waren, näm-lich die rote Fahne und die blauweiße finnische Staats-flagge. Zwischendurch verbeugte sie sich höflich vor dem Publikum und wartete auf Applaus. Zum Programm gehörte ferner, dass sie mit einem großen Luftballon spielte und auf einem Bein stand, und zwar nacheinan-der auf jedem einzelnen. Zur Erheiterung zwischen-durch putzte sie sich mit einem riesigen Besen die Zäh-ne. Dann kletterte Lucia auf ihren Rücken und turnte dort elegant, während Emilia im Kreis herumlief.
Zum Schluss folgte das Tanz- und Gesangsprogramm, bei dem Emilia ihre neuen Künste zeigte. Sie tanzte zusammen mit Lucia und Igor mehrere langsame Wiener Walzer und imitierte auf rührende Weise die Arien einer Operettensoubrette. Der Auftritt endete mit Trepak und prächtigen Trompetenlauten Emilias, die irgendwie wie die Juchzer der Kosaken klangen. Das sibirische Publi-kum war außer sich vor Begeisterung. In einer Zeitung hieß es, dass man dergleichen noch nie in der russi-schen Taiga gesehen habe. In der Ölmetropole Tjumen wurde Emilia sogar fürs Fernsehen interviewt.
Lucia brauchte nun nicht mehr mit jeder Kopeke zu sparen, sie konnte für Emilia anständiges Futter kaufen, Igor den Lohn erhöhen und sich selbst neue Kleidung kaufen. Die alten Stücke hingen nach den vielen langen Bahnfahrten bereits in Fetzen. Igor schaffte sich eine Kosakenuniform und Reitstiefel an.
Igor hatte als Jüngling angekündigt, eines Tages nach Hermantowsk zurückzukehren, wenn er sich nur erst in der kalten Welt den ihm gebührenden Platz erobert hätte. Jetzt war es so weit, er könnte als Sieger heim-kehren, seiner Verwandtschaft Lucia und Emilia präsen-tieren und ein so prachtvolles Fest veranstalten, wie man es in jener Gegend noch nie erlebt hatte. Das Pro-gramm würde aus gutem Essen, russischen Traditionen und glanzvollen Auftritten des Trepak tanzenden Elefan-ten bestehen.
Er sah Lucia tief in die Augen und bat
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