Ein Fall zu viel
klargemacht hatte, das aus uns nichts wird.«
»Ich nehme an, Sie haben Ihre Sprechstundenhilfe in einem sehr verzweifelten Zustand zurückgelassen. Anschließend sind Sie zu sich nach Hause gefahren.«
»Das ist beides korrekt. Ich konnte ja nicht ahnen, was nachher passieren würde. Selbstverständlich wäre ich sonst bei ihr geblieben.«
Aha, wieder einmal so einer von der edlen Sorte, dachte Pielkötter angewidert. Laut sagte er: »Ihre Freundin haben Sie an dem Tag nicht mehr gesehen?«
»Nein, ich wohne ja in Essen, in der Nähe vom Limbecker Platz. Gina hingegen lebt in Kettwig. Für einen Besuch wäre es wirklich zu spät gewesen.«
Unerwartet heftig klopfte Pielkötter auf die gläserne Schreibtischplatte. »Offensichtlich wirft Ihre Praxis einiges ab«, erklärte er mit wachsamem Blick.
»Ich kann mich nicht beklagen«, erwiderte Gerstenschneider sichtlich stolz. »Demnächst wird das zweite Sprechzimmer renoviert.«
Abrupt stoppte er seinen Redefluss und setzte eine betretene Miene auf. »Nun ja, vorerst ist daran natürlich nicht zu denken. Zunächst einmal plagen mich andere Sorgen.«
»Ich nehme an, Sie beschäftigen noch weitere Sprechstundenhilfen.«
»Ganz recht. Simone Vollmer und Kerstin Mackenbrock, aber Frau Sölle war immer die erste Kraft.«
»Wo sind die Angestellten jetzt?«
»Ich habe sie angerufen und ihnen erzählt, was passiert ist. Beide waren furchtbar entsetzt. Kein Wunder. Sie hatten ein sehr gutes Verhältnis zu Sandra Sölle. Selbstverständlich habe ich ihnen für heute freigegeben. Die Praxis bleibt ja sowieso geschlossen. Wie das morgen aussieht, muss ich mir noch überlegen. Ich nehme an …«, er schluckte, »der Leichnam wird möglichst schnell abtransportiert.«
»Davon gehe ich aus«, erwiderte Pielkötter. »Jetzt schreiben Sie mir bitte noch die Namen, Adressen und Telefonnummern Ihrer Angestellten auf. Vorerst habe ich keine weiteren Fragen.«
Während Dr. Gerstenschneider etwas auf seinen Notizblock kritzelte, dachte Pielkötter noch einmal über die beiden Sprechstundenhilfen nach. Hätten sie heute nicht vor ihrem Chef in der Praxis sein müssen? War es üblich, dass der Arzt zuerst eintraf? Vielleicht war Sandra Sölle ja immer die Erste gewesen. Er verspürte jetzt wenig Lust, ihn danach zu fragen. Eher drängte es ihn, endlich den Tatort mit eigenen Augen zu sehen. Am besten setzte er Barnowski darauf an, die Sprechstundenhilfen zu befragen. Wenn der seinen Charme spielen ließ, holte er aus den Damen womöglich das Letzte raus.
Nachdem Dr. Gerstenschneider ihm einen Zettel mit den gewünschten Informationen gereicht hatte, erhob er sich und lief eilig ins andere Sprechzimmer hinüber. Die Tür stand offen, und er konnte schnell einen ersten Blick auf die Tote werfen. Der Anblick berührte ihn seltsam. Womit hatte diese nette junge Frau diesen Tod verdient? Jetzt hatte er schon wieder einen Selbstmord ausgeschlossen. Du musst auch diese Möglichkeit in Betracht ziehen, ermahnte er sich. Keine voreiligen Schlüsse.
»Wie sieht deine erste Diagnose aus?«, wandte er sich an Tiefenbach.
»Alle Symptome deuten tatsächlich auf eine Überdosis Morphin hin. Nicht nur, weil die zwei leeren Ampullen auf der Liege diesen Schluss nahelegen.«
»Hat die Frau eigentlich vor ihrem Tod viel geweint?«
Den Rechtsmediziner schien diese Frage zu erstaunen. »Nun, dafür habe ich keinerlei Anhaltspunkte gefunden. Wobei ein paar Tränen natürlich nicht auszuschließen sind. Übrigens ...« Ein Schmunzeln zeigte sich auf Tiefenbachs Lippen. »Um eine deiner Lieblingsfragen vorwegzunehmen, Anzeichen von körperlicher Gewalt konnte ich nicht entdecken.«
Insgeheim musste nun auch Pielkötter lächeln. Tatsächlich hätte er als Nächstes danach gefragt. Erstaunlich, wie gut ihn Karl-Heinz Tiefenbach inzwischen kannte.
»Selbstverständlich werde ich mich mit der genauen Untersuchung wieder überschlagen. Einziges Limit, das weißt du ja: Erst der Mord, dann der Obduktionsbericht. Was anderes ist mit mir wirklich nicht zu machen.« Der Rechtsmediziner lachte.
Mit einem Blick auf die Tote fand Pielkötter das etwas deplatziert. Er war schon geneigt, seine gute Meinung über Karl-Heinz etwas zu revidieren, aber vielleicht war das einfach seine Art, die Arbeit an unzähligen Opfern auszuhalten.
»Sandra Sölle ist übrigens mehr als zwölf Stunden tot. Die Totenstarre klingt schon wieder langsam ab.«
Nun, das deckte sich durchaus mit der Angabe des Zeitpunkts, zu dem
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