Ein Fall zu viel
der Arzt die Praxis verlassen haben wollte.
»Wie es aussieht, ist hier niemand gewaltsam eingedrungen«, erklärte Jochen Drenck, der plötzlich neben ihn getreten war. »Die Fingerabdrücke auf der Spritze und den beiden Ampullen stammen auf den ersten Blick auch nur von einer Person. Das gilt auch für den Abschiedsbrief.«
»Hm«, brummte Pielkötter. »Zeigen Sie mal her.«
Drenck wandte sich an einen seiner Mitarbeiter und reichte ihm dann das durch eine Klarsichthülle geschützte Schriftstück.
Seltsam, der Brief war getippt. Zumindest bis auf die Unterschrift. Und selbst die bestand nur aus ihrem Vornamen. Pielkötter überflog die Zeilen zweimal. Zunächst wurde der Freitod angekündigt. Als Grund war tatsächlich die unerwiderte Liebe zu Dr. Gerstenschneider aufgeführt und die Angst, unter diesen Umständen nicht länger bei ihm arbeiten zu können. Alles deckte sich schön mit den Aussagen des Arztes. Die Motive waren durchaus nachvollziehbar, der Griff in den Medikamentenschrank für eine Sprechstundenhilfe sicher kein Problem, die Todesart nicht die Schlechteste. Insgesamt logisch und glaubwürdig, wären da nicht diese anderen Unfälle gewesen. Die Fäden schienen in dieser Praxis zusammenzulaufen.
Abrupt gab Pielkötter den Brief an Drenck zurück. Fast hätte er etwas ganz Wichtiges vergessen. Wie konnte das nur passieren? Aufgeregt rannte er aus dem Raum und suchte Gerstenschneider auf. Was wollen Sie denn noch, schien sein unfreundlicher Blick auszudrücken.
»Nur eine kurze Frage«, fing Pielkötter an. »Gehörten Christiane Altenkämper und Doktor Christoph Böhmer auch zu Ihren Patienten?«
Die Gesichtsfarbe des Arztes verblasste. Er schwieg einige Sekunden. Offensichtlich hatte ihn diese Frage gehörig aus dem Konzept gebracht.
»Klarer kann ich mich nicht ausdrücken!«, legte Pielkötter nach.
»Bei den vielen Patienten wird es wohl gestattet sein, in Ruhe darüber nachzudenken.« Nach seiner Miene zu urteilen, schien er abzuwägen, ob er mit der gewünschten Information tatsächlich herausrücken sollte.
Pielkötter las förmlich die Sorgen hinter seiner hohen Stirn. Was weiß dieser Scheißkommissar? Hat er schon einen Durchsuchungsbeschluss, oder kann ich die Unterlagen noch beiseiteschaffen? Werden Simone Vollmer und Kerstin Mackenbrock dichthalten, wenn ich sie nachdrücklich darum bitte? Plötzlich lächelte er süffisant. Offensichtlich hatte er sich zu einem Entschluss durchgerungen.
»Ich glaube ja«, gab er nun zu. »Sie gehörten zu meinen Patienten. Allerdings nicht gerade zu denen, die mir seit Jahren die Treue halten. Deshalb konnte ich mit den Namen zunächst auch nichts anfangen. Zudem sind meine geistigen Fähigkeiten heute etwas eingeschränkt. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass meine beste Kraft immer noch nebenan tot in meinem Sprechzimmer liegt.«
Pielkötter ging nicht darauf ein. »Soviel wir wissen, waren die beiden wegen Arthrose bei Ihnen in Behandlung.«
»Ganz recht. Auf diesem Gebiet habe ich mir einen gewissen Namen gemacht.«
Die Mitleidsmasche in seiner Stimme hatte er wieder abgelegt. Stattdessen klang eine Portion Stolz in seiner Antwort mit. Nun, der würde ihm gleich vergehen.
»Wissen Sie, was mir zu denken gibt?«, fragte Pielkötter mit einem süffisanten Lächeln. »Innerhalb von etwa zwei Wochen sterben vier Menschen auf sehr unnatürliche Art und Weise. Und alle Toten haben mit Ihrer Praxis zu tun.«
»Zweifellos ist das merkwürdig«, erwiderte Gerstenschneider. »Erklären kann ich Ihnen das allerdings nicht.« Dabei starrte er auf irgendetwas an der gegenüberliegenden Wand. »Schade, dass Frau Sölle nicht mehr lebt. Die hätte Ihnen da vielleicht Auskunft geben können.«
Du Schweinehund, dachte Pielkötter wütend. Wollte er den Verdacht jetzt etwa auf die Tote lenken? Im nächsten Moment ermahnte er sich jedoch, objektiv zu bleiben. Womöglich hatte die Sprechstundenhilfe tatsächlich Selbstmord begangen und ein dunkles Geheimnis mit ins Grab genommen. Zum wiederholten Mal an diesem Tag war er unendlich dankbar, dass er sich nicht allein auf seinen kriminalistischen Instinkt verlassen musste. Tiefenbach und die Spurensicherung würden wie immer anständige Arbeit leisten. Und selbst Barnowski würde ihn tatkräftig unterstützen.
40. Kapitel
Kerstin Mackenbrock wohnte in der Nähe der Marktstraße, der Einkaufsmeile in der alten Oberhausener City. Seit die Neue Mitte mit den überdachten Ladenstraßen, den schicken Bars
Weitere Kostenlose Bücher