Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
opfern.
Auch wenn wir jetzt die psychische Abhängigkeit erkennen, in der sich Christine damals gegenüber ihrem Missbraucher befand, geht es auch heute noch fast nur um die Glaubwürdigkeit des Opfers und um die Frage, gibt es überhaupt ein Opfer, oder hat »das Luder« das alles provoziert?
Regelmäßig wird ohne gegenständliche Beweise eher gegen das Opfer vorgegangen oder einfach nur stillgehalten. Wer das nicht glauben will, lese die Tageszeitung einer beliebigen Stadt.
Carla, 41 Jahre, Diplom-Betriebswirtin und selbstständige Schmuckdesignerin
Ich lernte Christine und die anderen Mädchen der Clique kennen, als ich vierzehnjährig mit meinen Eltern aus dem Berlin der Endsiebziger in das für mich kleinbürgerliche, spießige Waldstadt zog. Meine ersten sexuellen Erfahrungen hatte ich schon mit zwölf Jahren gemacht und kam auf eine katholische, konservative Mädchenschule.
Christine war damals in ihrer geschlechtlichen Entwicklung noch nicht so weit wie die anderen Mädchen. Sie wirkte immer etwas burschikos mit ihren kurzen Haaren und ihrer knabenhaften Figur, kompensierte dies jedoch durch ein extrovertiertes, pausenclownartiges Verhalten. Auffällig war, dass Christine nie dabei sein durfte, wenn die ersten Feten gefeiert wurden oder wir uns zum sonntäglichen Tanztee in der Tanzschule Krämer trafen, um hoffnungsfroh und zugleich bangend darauf zu warten, vom Auserwählten zum Bluestanzen aufgefordert zu werden. Es war – gerade für die anderen Mädchen – die Zeit der ersten zaghaften Annäherung an das andere Geschlecht, die Zeit der ersten Küsse, die Zeit der Träume und Illusionen.
Von Christines grauenvoller Kindheit wusste ich zu dieser Zeit so gut wie gar nichts. Ich kannte nur ihre damals aktuelle Familiensituation. Da war zum einen die Mutter, immer sportlich gekleidet, eine attraktive Frau, jünger als die meisten anderen unserer Mütter, in der Außenwirkung immer souverän und freundlich. Auf mich wirkte sie jedoch schon damals kalt und ohne Herzenswärme. Ich spürte wohl instinktiv die Diskrepanz zwischen dem äußeren Schein, der perfekten Fassade, und ihrem wahren Wesenskern. So war ich nur selten bei Christine zu Besuch, zum einen, weil es nicht gern gesehen war, zum anderen, weil man sich dort als Besucher auch nicht wohl fühlte. Ich wusste, dass Christine die Liebe und Fürsorge ihrer Mutter vermisste und mich umso mehr um meine Mutter und meine behütete Kindheit beneidete.
Und dann gab es da diesen Jürgen Karnasch, den Lebensgefährten von Christines Mutter. In meinen Augen damals ein aalglatter Typ. Er hatte einen Schnauzer, trug Goldkettchen, war immer edel gekleidet und mit einem Jaguar unterwegs. Es erschien mir zunächst, als ob er ermöglichte, wovon Christine immer geträumt hatte. Sie wurde von ihm von Kopf bis Fuß zum Motocrossfahren ausgestattet, eine Maschine selbstverständlich inklusive. Er schenkte ihr ihren Bobby, einen herzallerliebsten Pudel, der zu ihrem treuen Begleiter und Freund wurde.
Ich kannte Christine gerade etwas mehr als ein Jahr, da vertraute sie sich mir als Erster an – wohl weil ich sexuell schon erfahrener war als die anderen Mädels. Sie erzählte mir, wie Jürgen sie zur Weihnachtszeit mit Glühwein betrunken gemacht und sie dann »verführt« habe. Das Wort »sexueller Missbrauch« stand damals nicht im Raum. Ich fühlte mich einerseits geehrt für das Vertrauen, das sie mir mit dieser Offenbarung zuteilwerden ließ, andererseits war ich mit diesem Wissen auch überfordert. War das in Ordnung, was da geschehen war? Dass die Mutter von all dem nichts mitbekommen hatte, war auch für mich eine Genugtuung, denn so konnte Christine es ihrer Mutter »heimzahlen«. Ich wusste, dass Christine sich immer nach einem Freund gesehnt hatte, immer auf der Suche nach Liebe, Bestätigung, Zuneigung und Anerkennung war. Warum sollte Jürgen ihr das nicht geben können?
So führte Jürgen dieses geschickte Spiel der Manipulation und des sexuellen Missbrauchs weiter. Mittlerweile wussten auch die anderen Mädels aus der Clique davon, aber keine – mich eingeschlossen – konnte die damalige Situation in ihrem Ausmaß und ihrer Wirkung auf Christines Seele abschätzen. Außerdem machte Christine dieses Spiel ja weiterhin »freiwillig« mit, so dachte ich zumindest. Heute weiß ich, dass sie keine andere Wahl hatte, dass der Nährboden für den späteren sexuellen Missbrauch und dessen Duldung schon in ihrer frühesten Kindheit bereitet
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