Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
Revier, da hatte mein Vater nichts zu suchen. Was ich ihm gesagt habe, damals, möchten Sie wissen? Ich habe meinem Vater regelrecht einen Platzverweis erteilt: für die Wache, für mein Leben, für Felixʼ Leben, für Mias Leben. Einen Platzverweis mit allen Konsequenzen. Ich habe ihm die Konsequenzen aufgezeigt, die unweigerlich folgen, wenn man nicht hören will: die Ingewahrsamnahme, das kostenfreie Logis in der Zelle im Präsidium. Immer wieder und immer wieder, so lange, bis er brav ist und auf mich hört. Auf mich und meine Jungs.
Mein Vater ging und kam zum Glück nie wieder. Er hat Angst vor der Polizei. Und er hat Angst vor mir. Damit rechnen Täter nicht, wenn sie ihre Taten begehen. Dass auch Opfer eines Tages groß werden. Felix hat mir das gesagt. Nicht etwa ein Kollege. Und noch weniger rechnen sie damit, dass diese Opfer eines Tages stärker sein könnten. Mein Vater ging, und der Ansprechpartner blieb. Er sprach noch lange mit mir. Wir mussten Christinchen beruhigen, die völlig aufgelöst, zitternd und schluchzend in der Ecke saß. Die kaum glauben konnte, dass ER weg war und dass ER jetzt Angst hatte. Angst vor der starken Polizistin. Als Christinchen endlich begriffen hatte, dass sie keine Angst mehr vor IHM zu haben brauchte und dass die große Polizistin tatsächlich gewonnen hatte, da feierte sie mich. Und glauben Sie mir: Ich ließ mich gern von ihr feiern. Diese Begegnung mit meinem Vater prägte mich. Ich begann mit Mia und meinen Ende dreißig einen ganz neuen Sport: Taekwondo. Als Kind wollte ich immer Judo machen. Lernen, wie man wirft und fällt. Jetzt wollte ich lernen, wie man tritt und boxt. Man weiß nie, wann man das nächste Mal angegriffen wird. Und ich halte es für meine Verpflichtung, meiner Tochter mit auf den Lebensweg zu geben, wie man sich verteidigt: mental und körperlich. Zwei Mal pro Woche trainieren wir seitdem gemeinsam. Mia macht bald ihren nächsten Gurt und hat mich dann überholt. Das ist gut so. Die nächste Generation muss immer ein bisschen besser sein, sonst gibtʼs keinen Fortschritt.
Auch wenn man so gekämpft hat wie mein Mann und ich, ist man trotzdem nie gefeit vor Rückschlägen. Ich sagte es bereits. Das Leben hört nicht einfach auf, einen zu triezen oder zu piesacken. Leben, das ist nichts Statisches, sondern es geht immer weiter. Und immer wieder gibt es Situationen, die einen fast umhauen. »Das Leben geht immer weiter.« Althoff hatte es mir gesagt.
»Es ist keine Schande, wenn man in seinem Leben an einen Punkt gelangt, an dem man nicht mehr weiterkann. Aber es ist eine Schande, wenn man das erkennt und dann liegen bleibt!« Mein Doc hatte diesen Satz gesagt.
In der Realität muss man das erst mal schlucken. Das geht quer runter. Weil es schon wieder an den Hoffnungen, den Kräften und den Erinnerungen zehrt. Weil man nun nicht mehr blind ist, sondern dieses ganze Theater schon kennt. Und weil man Angst bekommt, dass man doch noch scheitert. Ich kämpfte gegen bedrohlich anrückende Depressionen. Wieder einmal.
Den Rest verpasste mir dann das Schreiben vom Gericht. Ein Schreiben, das in knappen acht Sätzen sechsundfünfzig Seiten und zweiundvierzig Stunden zunichtemachte. Das Gericht hatte entschieden, meinen Fall erst gar nicht zur Anklage zu bringen, sondern aufgrund eines »Formfehlers« einzustellen. Mir war, als hätte man mit diesem Schreiben mein Leben beendet, bevor es überhaupt begann. Verstehen Sie das? Meine ganze Hoffnung, dass Jürgen eingesperrt werden würde und dass die Justiz mit erhobenem Finger aufstehen und es rausschreien würde vor der Öffentlichkeit: »SIE TRAGEN SCHULD! SIE SIND SCHULD!«, all das passierte nicht. Jürgen wusste noch nicht einmal, dass ein Verfahren gegen ihn lief. Es wurde eingestellt, bevor es begann. Wegen eines Formfehlers, den kein Rechtsanwalt in dieser Kanzlei nachvollziehen konnte. Die Fassungslosigkeit war groß. Die Kanzlei verzichtete auf das Honorar.
Mein Zustand verschlechterte sich wieder. Dieses Mal wollte ich nicht tatenlos zuschauen, wie ich unterging und in Depressionen versank. Ich warte prinzipiell nicht mehr lange. Das ist Zeitverschwendung. Ich habe nur dieses eine Leben. Nur dieses eine. Ich konnte mit Felix sprechen. Felix, der mir seinen Therapeuten empfahl, mit dem ich einen Volltreffer landete.
Der Mann ist gut. Richtig gut. »Andere müssen täglich Medikamente nehmen, andere sitzen im Rollstuhl und Sie? Sie sitzen ein Mal die Woche bei mir. Und wenn Sie dann wieder
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