Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
da oben ist schuld.«
Er tippte auf den Namen meiner Urgroßmutter. »Deine Mutter hat auch so einen Drachen an ihrer Seite. Wenn du mich fragst, dann ist Jürgen der Nachfolger von dem Drachen. Wenn du dessen Familien-Diagramm machen würdest, stünde er auch ganz oben. Die haben beide gleich viele Leichen hinterlassen. Die tragen beide gleichermaßen Schuld!«
Ich nickte und murmelte wie weggetreten:
»Der Drache. Der Drache, der sich immer auf meine Brust setzte, der mir die Luft zum Atmen raubte. Immer dann, wenn Jürgen sich auf mich legte und mich küsste, bis ich keine Luft mehr bekam. Jürgen. Der Drache.«
»Wie war die Botschaft von deiner Oma?« Felix schaute mich an. »Brechen. Musst brechen. Musst bekennen. Ich werd nicht schlau daraus.«
Felixʼ Miene erhellte sich. »Ich aber. Ich habʼs! Du sollst mit der Familientradition brechen. Die, die gegangen sind, die alles hinter sich gelassen haben, die habenʼs überlebt. Die, die geblieben sind, deine Oma, deine Mutter, die hat der Drachen kaputtgemacht. Ergo: Du musst alles hinter dir lassen. Schließ mit deiner Vergangenheit ab. Dann wird alles gut.« Felix triumphierte. Lachte und freute sich.
Unwillkürlich musste auch ich lachen.
»Stell Bubi bei deinen Eltern weg, ich möchte jetzt meine Zeit mit dir verbringen. Mit dir allein. Es ist nicht gesund für uns. Vielleicht in ein paar Jahren. Nicht jetzt. Das wäre zu früh. Das könnte alte Wunden aufreißen, bei mir jedenfalls. Und bei deinen Eltern vielleicht auch. Dann zoffst du dich wieder nur mit deinem Vater. Wäre doch blöd!«
Felix nickte. »Wir müssen beide loslassen. Du hast Recht. Deine Oma hat Recht.«
Wir wollten es versuchen. Noch mal versuchen. Wir hatten so lange gekämpft und uns wirklich angestrengt. Ich honorierte es sehr, dass Felix schon seit einigen Monaten ebenfalls zu einem Therapeuten ging. Der Mann musste gut sein. Richtig gut. Ich spürte es an Felix. Unserem Umgang miteinander und an der Art, wie wir redeten und uns zuhörten. Wir hatten gelernt, wichtige Fragen zu klären, ohne uns dabei an die Wand zu nageln, ohne uns anzuschreien, ohne uns Vorwürfe zu machen und ohne uns dabei angegriffen zu fühlen.
Die Träume hörten auf. So schnell, wie sie gekommen waren, hatten sie sich auch wieder verabschiedet. Geblieben war ein anderer Traum. Unser Traum von Liebe.
Nach anderthalb Jahren zog ich zurück. Nach Hause. Wir renovierten die ganze Wohnung. Gemeinsam. Gemeinsam und mit viel Spaß! Und wir hatten Rückfälle. Viele Rückfälle. Angst, dass es doch wieder schiefgehen könnte. Meine Rückfälle wurden durch Situationen ausgelöst, die Erinnerungen wach werden ließen. Da war die Episode mit meinem leiblichen Vater. Eines Tages stand er auf der Wache und flennte. Er war alt und grau geworden und forderte Vergebung. Eine ganze Nacht lang hatte er vor der Wache gesessen und gewartet. Meine Kollegen warnten mich telefonisch vor, sodass ich Bescheid wusste, dass er hier irgendwo war. Als er sich dann aber in suizidaler Manier vor den Streifenwagen warf, den ich steuerte, da war es vorbei mit meiner Fassung. Nur eine Vollbremsung hatte den Unfall verhindert. Ich holte mir Hilfe. Es gibt bei der Polizei in Nordrhein-Westfalen so genannte Soziale Ansprechpartner. Kollegen, die eine dreijährige Ausbildung absolvieren. Eine nebenberufliche Ausbildung, die auf psychologisch fundierten Erkenntnissen aus der Suchttherapie und Krisenintervention beruht. Das Motto ist: »Kollegen helfen Kollegen«. Einer dieser Ansprechpartner kam mir zu Hilfe. Ich musste mit meinem Vater sprechen, denn sein plötzliches Auftauchen war Gift für mich. Wir vereinbarten einen Gesprächstermin auf der Wache. In der Anwesenheit meines Vaters fühlte ich mich mehr als nur unwohl. Die kleine Christine in mir rannte hektisch in ihrem Zimmer auf und ab. Sie hatte panische Angst vor diesem Kerl! Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre wieder abgehauen. Nach unten ins Verlies. Gerade jetzt, wo sie ein so schönes Zimmer hatte.
Im Beisein meines Vaters nahmen mir die Kollegen meine Waffe ab. Ich war in Uniform und fühlte mich darin sehr gut aufgehoben. Mit dieser Klientel hatte ich zur Genüge dienstlich zu tun. Mein Vater fragte mich provokativ: »Haben die Angst, dass ich dir etwas tun könnte?«
»Nein«, antwortete die erwachsene Polizisten-Frau, »die haben Angst, dass ich DIR etwas tun könnte!«
Die Weichen waren gestellt und die Fronten schnell geklärt. Die Polizeiwache war MEIN
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