Ein Fest der Liebe - Nacht der Wunder
Streifzug zurückkamen, hatten sie vier graue Wolldecken bei sich, ebenso viele große Konservendosen und eine Schachtel Cracker.
“Es gab auch einen Schinken”, berichtete der Vertreter laut vor Erleichterung, wieder in der Nähe des Ofens zu sein. “Aber der Doktor meinte, dass es sich dabei wahrscheinlich um das Weihnachtsessen von jemandem handelt und wir uns nicht einfach bedienen sollten.”
Alle nickten zustimmend, sogar Ellen und Jack. Nur Whitley brummte etwas Unfreundliches.
Es gab weder Teller noch Besteck. Morgan öffnete die Dosen mit seinem Taschenmesser, und sie mussten mit den Händen direkt aus den Dosen essen – Pfirsiche, Tomaten, Erbsen und blasses Hühnerfleisch. Danach nahm Morgan einen alten Kübel, ging hinaus und füllte ihn mit Schnee. Auf dem Herd schmolz er den Schnee zu Wasser, damit sie sich alle waschen konnten.
So froh Lizzie auch war, ihren Hunger gestillt zu haben, so unruhig blieb sie doch wegen ihrer bedrohlichen Lage. Heute war der dreiundzwanzigste Dezember. Ihr Vater und ihre Onkel mussten bereits auf dem Weg sein. Sie konnte ihre Ankunft kaum erwarten, fürchtete sich aber zugleich davor. Der Weg von Indian Rock hierher war schwer und gefährlich. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass ein Rettungsversuch ein Unglück vielleicht nicht verhindern, sondern sogar verursachen konnte. Geliebte Menschen würden ihr Leben aufs Spiel setzen, wenn sie sich bei diesen Wetterbedingungen herauswagten.
Und sie würden sich herauswagen, daran bestand kein Zweifel. Sie waren McKettricks und nicht fähig, tatenlos herumzusitzen, wenn jemand – vor allem jemand von ihnen – Hilfe brauchte.
Sie schloss einen Moment lang die Augen, um nicht in Tränen auszubrechen.
Um sich abzulenken, stellte sie sich die Weihnachtsvorbereitungen auf Triple M vor. Auf der Farm gab es vier Häuser, und aus allen Küchen würde der Duft nach herrlichem Gebäck dringen. Inzwischen würde ihr Großvater längst Alarm geschlagen haben …
Als Morgan sich neben sie setzte und ihr eine Tasse Kaffee reichte, erschrak sie ein wenig. In Gedanken war sie gerade nach Hause gereist – sich nun in dieser Kombüse mit lauter Fremden wiederzufinden, war schmerzhaft.
Die anderen waren alle beschäftigt. John Brennan schlief mit auf die Brust gesunkenem Kinn, Ellen und Jack spielten mit dem Vertreter Karten, Whitley las ein Buch – er trug immer eines in der Innentasche seines Mantels bei sich. Mrs. Halifax stillte Nellie Anne unter dem Quilt. Mrs. Thaddings hatte Woodrow aus dem Käfig gelassen. Nun saß er auf ihrer rechten Schulter, ein gut erzogener, aufmerksamer Vogel, der ab und zu Sonnenblumenkerne aus der Hand seines Frauchens pickte.
“Brennan hat Fieber”, flüsterte Morgan Lizzie zu.
“Ist es ernst?”, fragte Lizzie alarmiert.
“Fieber ist
immer
ernst, Lizzie. Wahrscheinlich hat er sich auf dem Weg in die Kombüse verkühlt, wenn nicht schon vorher. So wie es in seiner Brust rasselt, entwickelt er gerade eine Lungenentzündung.”
“Guter Gott”, wisperte Lizzie und dachte an den kleinen Tad, der darauf wartete, seinen Vater in dem neuen Heim in Indian Rock zu begrüßen.
“Haben Sie inzwischen die Hoffnung aufgegeben, Lizzie McKettrick?”, fragte Morgan sehr leise.
Sie holte Luft, dann schüttelte sie energisch den Kopf. “Nein”, sagte sie fest.
Obwohl sie selbst noch nie eine Lungenentzündung gehabt hatte, wusste sie, dass diese Krankheit ihre Opfer innerhalb von Tagen oder Stunden umbringen konnte. Ihre Stiefgroßmutter Concepcion und Lorelei kümmerten sich um die Kranken in Indian Rock und in den Schlafbaracken auf Triple M, und Lizzie hatte schon oft an einem Krankenbett Nachtwache gehalten. “Ich helfen Ihnen”, sagte sie jetzt, obwohl sie nicht wusste, woher sie die Kraft dazu nehmen sollte. Sie war zwar jung und gesund, aber ihre Nerven lagen blank und waren bis zum Zerreißen gespannt.
“Ich weiß”, entgegnete Morgan, und seine Stimme klang rau. “Sie würden eine gute Krankenschwester abgeben, Lizzie.”
“Dazu habe ich nicht genug Geduld”, erwiderte sie ernst und rieb sich die Hände, die inzwischen – wie auch alle anderen Gliedmaßen – warm geworden waren, doch tief in den Knochen schmerzten. “Um eine gute Krankenschwester zu sein, meine ich.”
“Und als Lehrerin braucht man keine Geduld?”, fragte er.
Irgendwo in sich entdeckte sie ein kleines Lachen. “Ich verstehe schon, was Sie sagen wollen”, räumte sie ein. Als sie den Kopf drehte, sah
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