Ein Fest der Liebe - Nacht der Wunder
denn?”, wollte sie wissen. “Sie machen sich doch bestimmt genau solche Sorgen wie wir alle.”
Er konnte ihr nicht die Wahrheit sagen – dass er sich wider besseres Wissen ständig vorstellte, wie er mit ihr an seiner Seite Patienten in Indian Rock behandelte. “Ich kann mir Sorgen nicht leisten”, antwortete er stattdessen. “Das ist nicht produktiv.”
Damit wollte sie sich nicht abspeisen lassen, das konnte er sehen. Ihre blauen Augen verdunkelten sich vor Entschlossenheit. “Wie war Weihnachten bei Ihnen, als Sie ein kleiner Junge waren?”
Die Frage fand Morgan merkwürdig unangenehm. Sein Vater war Arzt gewesen, seine Mutter eine reiche Erbin und eine Naturgewalt. Vor allem an den Feiertagen waren seine Eltern jeden Abend auf Feste gegangen oder hatten selbst welche gegeben. “Minerva – sie war unsere Köchin – hat immer ein Brathuhn gemacht.”
Lizzie blinzelte. Wartete. Und schließlich, als sie sicher sein konnte, dass nichts mehr folgte, hakte sie nach. “Das ist alles? Ihre Köchin hat ein Brathuhn gemacht? Kein Weihnachtsbaum? Keine Geschenke? Keine Weihnachtslieder?”
“Meine Mutter wäre nie auf den Gedanken gekommen, einen Tannenbaum in unser Haus zu schaffen”, gestand Morgan. “Ihrer Ansicht nach war so etwas vulgär und grob. Außerdem wollte sie keine Nadeln auf ihren Teppichen haben. Am Weihnachtsmorgen, wenn ich zum Frühstück kam, lag auf meinem Stuhl ein Geschenk für mich. Immer ein Buch, eingepackt in braunes Papier und mit Bindfaden zugeschnürt. Und was die Weihnachtslieder betrifft – am Ende der Straße gab es eine Kirche, und manchmal habe ich ein Fenster geöffnet, um die Gesänge zu hören.”
“Das klingt einsam”, bemerkte Lizzie.
Die Weihnachtsfeste seiner Kindheit waren tatsächlich einsam gewesen. Genauso wie die restlichen 364 Tage des Jahres. Einen Moment war er wieder ein kleiner Junge, der mit Minerva feierlich das Huhn verspeiste. Sein Vater machte wieder einmal einen Hausbesuch, und seine Mutter schlief sich richtig aus nach einem langen Abend mit Fremden, die sie ihrem eigenen Sohn vorzog.
“Wenn Sie die Köchin nicht erwähnt hätten”, fuhr Lizzie fort, als er nichts sagte, “hätte ich gedacht, Sie wären in einer armseligen Hütte aufgewachsen.”
Er lächelte ihr zu. Seine Mutter hatte ihn immer als Last betrachtet, wenn auch als eine, die man leicht vergessen konnte. Immer wieder bereute sie wortreich den Tag, an dem sie einen armen Landarzt geheiratet hatte anstelle eines Bankiers wie ihren verstorbenen und vergötterten Vater. Morgans Vater ertrug das alles nur, indem er so selten wie möglich zu Hause war, und wenn Morgan nicht gerade im Schulzimmer im dritten Stock mit einem Lehrer weggeschlossen war, nahm er ihn oft zu seinen Hausbesuchen mit. Diese Ausflüge bereiteten Morgan immer viel Freude. Außerdem lernte er, dass es weitaus Schlimmeres gab, als von einer verwöhnten, desinteressierten und sehr reichen Mutter aufgezogen zu werden.
Zum einen hatte er seinen Vater.
Und zum anderen Minerva. Sie war als Sklavin geboren worden. Darum war ihr Lincolns Emanzipationsproklamation so heilig wie die Bibel gewesen. Sie hatte den Mann, den sie “Vater Abraham” nannte, tatsächlich einmal gesehen und sich in seinen Mantelärmel festgekrallt. Er hatte sie angelächelt. So viel Schmerz in diesen grauen, grauen Augen, erzählte sie Morgan, den es nie langweilte, dieser Geschichte zu lauschen.
Mehr Schmerz, als ein einzelner Mann ertragen kann
.
Morgan hätte eine Menge gegeben, um diese Geschichte nur noch ein einziges Mal zu hören.
Während sie aufs Neue seine abgetragene Kleidung musterte, biss Lizzie sich auf die Lippe. “Sie sind nicht arm”, betonte sie und errötete.
Er lachte, und verdammt, das fühlte sich gut an. “Oh, aber das bin ich, Lizzie McKettrick”, widersprach er. “Sogar ärmer als eine Kirchenmaus. Mutter hatte nichts dagegen, dass ich zum Studieren nach Deutschland ging. Sie dachte, das würde vorbeigehen, und ich würde schon wieder zur Vernunft kommen. Als ich dann aber tatsächlich Arzt wurde, hat sie mich enterbt.”
“Das hat sie? Aber Ihr Vater hat doch bestimmt …”
“Ihm hat sie ebenfalls die Tür gewiesen. Sie war wütend auf ihn, weil er mich dazu ermutigt hat, Arzt zu werden, anstatt mich um das Familienvermögen zu kümmern. Minerva hat eine Pension eröffnet, und Dad und ich zogen als ihre ersten Gäste ein. Wir suchten uns eine Praxis, hängten ein Schild raus und arbeiteten zusammen,
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