Ein Feuer Auf Der Tiefe
»Schwarzer?«
Das Geschöpf arbeitete sich hinter dem Gebüsch hervor und kam langsam näher. Das war alles, was von einem der Kanoniere Scrupilos übrig war. Sie erinnerte sich dunkel an das Rudel, ein stattliches Sechssam, alle Glieder groß und flink. Doch jetzt war nicht einmal ›Schwarzer‹ heil: Eine fallende Kanone hatte ihm die Hinterbeine zerschmettert. Er zog sein beinloses Hinterteil auf einem kleinen Wagen mit dreißig Zentimeter großen Rädern einher – eine Art Skrodfahrer mit Vorderbeinen. Sie schob eine Schüssel mit Eintopf zu ihm hin und machte die Geräusche, die Pilger ihr beigebracht hatte. Schwarzer hatte die letzten drei Tage die Nahrung verweigert, doch heute rollte und lief er nahe genug heran, dass sie ihm den Kopf streicheln konnte. Nach einer Weile senkte er die Schnauze zu dem Eintopf herab.
Johanna grinste, angenehm überrascht. Dieses Lazarett war ein seltsamer Ort. Vor einem Jahr hätte es sie in Angst und Schrecken versetzt; selbst jetzt sah sie die Verletzten nicht aus der richtigen Rudelperspektive. Während sie weiter den gesenkten Kopf des Schwarzen streichelte, schaute Johanna über den Waldboden hinüber zu den rohen Zelten, den Patienten und Teilen von Patienten. Es war wirklich ein Lazarett. Die Ärzte versuchten tatsächlich, Leben zu retten, obwohl die ärztliche Kunst ein grauenhafter Vorgang war, bei dem ohne Betäubung geschnitten und geschient wurde. In dieser Beziehung war es durchaus der menschlichen Medizin im Mittelalter vergleichbar, wie Johanna sie im Datio gesehen hatte. Doch mit den Klauenwesen war es noch anders. Die Ärzte waren am Wohlergehen von Rudeln interessiert. Für sie waren Solos Einzelteile, Organe, die vielleicht von Nutzen sein mochten, um größere Fragmente wieder zum Funktionieren zu bringen, wenigstens zeitweise. Verletzte Solos standen auf dem allerletzten Platz in der medizinischen Rangliste. »In solchen Fällen ist nicht mehr viel zu retten«, hatte ihr einer der Ärzte durch Pilger gesagt. »Und selbst wenn es möglich wäre – würdest du ein verkrüppeltes, unsicher eingebundenes Glied in deinem Ich haben wollen?« Der Bursche war zu erschöpft gewesen, um die Absurdität seiner Frage zu erfassen. Seine Schnauzen hatten vor Blut getrieft, er hatte stundenlang gearbeitet, um verwundete Glieder ganzer Rudel zu retten.
Außerdem hörten die meisten verwundeten Solos einfach auf zu essen und starben in weniger als einem Zehntag. Selbst nachdem sie ein Jahr bei den Klauenwesen verbracht hatte, konnte sich Johanna nicht recht damit abfinden. Jedes Solo erinnerte sie an den lieben Schreiber; sie wünschte ihnen bessere Chancen, als dessen letztes Überbleibsel gehabt hatte. Sie hatte den Essenwagen übernommen und verbrachte mit den verletzten Solos ebenso viel Zeit wie mit jedem anderen Patienten. Es hatte gute Ergebnisse gezeitigt. Sie konnte sich jedem Patienten nähern, ohne dass es zu Denk-Intereferenzen kam. Ihre Hilfe gab den Züchtern mehr Zeit, die Fragmente und Solos zu studieren und zu versuchen, funktionsfähige Rudel aus den Trümmern zusammenzustellen.
Und jetzt würde dieses eine vielleicht nicht verhungern. Sie würde es Pilger sagen. Er hatte bei einigen der anderen Neuzusammenstellungen Wunder vollbracht und schien das einzige Rudel zu sein, das ihre Gefühle für verletzte Solos in gewissem Grade teilte. »Wenn sie nicht verhungern, bedeutet das oft Geistesstärke. Selbst als Krüppel könnten sie für ein Rudel von Vorteil sein«, hatte er zu ihr gesagt. »Ich bin auf meinen Reisen oft verkrüppelt gewesen; man kann es sich nicht immer aussuchen, wenn man auf drei geschrumpft und tausend Meilen weit von daheim in einem unbekannten Land ist.«
Johanna stellte eine Schüssel mit Wasser neben den Eintopf. Nach einer Weile drehte sich das verkrüppelte Glied auf seinen Rädern um und nahm ein paar kleine Schlucke. »Halte durch, Schwarzer, wir werden jemanden finden, der du sein kannst.«
Tschitirattu war da, wo er sein sollte, und schritt seinen Postenbereich exakt so ab, wie es sich gehörte. Nichtsdestoweniger fühlte er nervöse Anspannung. Mit mindestens einem Kopf betrachtete er unablässig das Pfahlwesen, den Zweibeiner. Auch daran war nichts Verdächtiges. Er sollte hier Wache stehen, und das bedeutete, alle Richtungen im Auge zu behalten. Er schob seine Armbrust nervös aus den Kiefern in die Tragetasche und wieder in die Kiefer. Nur noch ein paar Minuten…
Tschitirattu umrundete abermals das Lazarett.
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