Ein Ganz Besonderer Fall
tragbaren Orgel ein neues Lied. Die Illustratoren und Kopierer setzten die letzten Striche unter die Arbeit des Nachmittags und säuberten ihre Federn und Pinsel. Bruder Humilis war in seiner Lesenische allein, denn er hatte Fidelis zur fröhlichen Arbeit hinaus in den Garten geschickt; nichts als ein Befehl des Älteren hätte den Jungen bewegen können, ihn zu verlassen.
Cadfael hatte die Absicht gehabt, den Hof zu durchqueren und sich zum Vorsänger zu gesellen. Er wollte, bevor die Glocke zur Vesper ertönte, noch eine Viertelstunde gemütlich bei Bruder Anselm sitzen und ein wenig mit ihm über die Musik sprechen und vielleicht auch streiten. Doch die Erinnerung an den stummen Jungen, der so freundlich zu seinen Altersgenossen zur fröhlichen Beschäftigung in den Obstgarten geschickt worden war, regte sich in ihm, als er den Kreuzgang betrat, und er sah vor sich das hagere Antlitz von Bruder Humilis, so beherrscht, so klaglos, so stolz und einsam. Oder war es eine demütige Einsamkeit? Diese Eigenschaft hatte er für sich beansprucht, und bei diesem Namen wollte er gerufen werden.
Sehr anspruchsvoll für einen so berühmten Mann. Inzwischen gab es im Kloster keinen mehr, der nicht um seinen Ruf wußte.
Wenn er ihm entfliehen und so stumm sein wollte wie sein Diener, dann war sein Vorhaben grausam vereitelt worden.
Cadfael überlegte es sich anders und wandte sich zum nördlichen Teil des Kreuzganges, wo die Lesenischen des Skriptoriums trotz der späten Stunde noch in der Sonne lagen.
Humilis hatte eine Nische in der Mitte bekommen, die als erste vom Licht erfaßt wurde und am längsten im Licht blieb. Es war dort sehr still, und die leisen Töne von Anselms kleiner Orgel schienen sehr fern und gedämpft. Das Gras des offenen Innenhofes war gebleicht und trocken, obwohl es jeden Tag gewässert wurde.
»Bruder Humilis…« sagte Cadfael leise in der Öffnung der Nische.
Das Pergament lag schräg auf dem Tisch, ein kleiner Topf mit Goldfarbe war umgefallen, einige Tropfen waren aufs Pflaster gespritzt. Bruder Humilis lag vorgebeugt auf dem Tisch.
Er hatte den rechten Arm gehoben, um sich am Tisch abzustützen, und die linke Hand lag in seiner Leiste, während das Handgelenk in seine Seite drückte. Er lag mit der linken Wange auf dem Blatt, die Haut war mit Blau und Karminrot verschmiert, und die Augen waren geschlossen; doch waren sie im Krampf geschlossen, während er versuchte, die Schmerzen zu beherrschen. Er hatte kein Geräusch von sich gegeben, denn sonst hätten ihn die Brüder in der Nähe gehört. Er hatte für sich behalten, was ihn quälte, und er wollte es auch in Zukunft niemand sehen lassen.
Cadfael nahm ihn sachte in den Arm und faßte seine stützende Hand. Die blau geäderten Augenlider hoben sich in den tiefen Höhlen, und die hinter den Schmerzschleiern klug strahlenden Augen erwiderten seinen Blick. »Bruder Cadfael…«
»Bleibt noch einen Augenblick still liegen«, sagte Cadfael.
»Ich will Edmund holen - unseren Krankenwärter…«
»Nein! Bruder, laßt mich doch… laßt mich ins Bett. Es wird schon vorbeigehen… es ist nichts Neues. Nur leise; helft mir, aber leise! Ich will kein Aufsehen erregen…«
Der raschere und verstohlenere Weg führte über die Nachttreppe der Kirche zu seiner Zelle im Dormitorium, statt über den großen Hof ins Krankenquartier, und er wünschte dringend, daß es seinetwegen keine Unruhe und keine Aufregung gebe. Er erhob sich, mehr durch eine Willensanstrengung als durch körperliche Kraft, und gelangte, von Cadfaels kräftigem Arm gehalten, den eigenen Arm fest auf Cadfaels Schultern gestützt, unbemerkt in die kühle Düsternis der Kirche und stieg langsam die Treppe hinauf. Als er auf seinem Bett ausgestreckt war, überließ Humilis sich mit einem geduldigen Lächeln Cadfaels geübten Händen und erhob keine Einwände, als Cadfael ihm die Kutte auszog und den dunklen Streifen aus Blut und Eiter freilegte, der sich auf den Verbänden von der linken Hüfte bis hinunter zum Schritt erstreckte.
»Es bricht durch«, sagte die ruhige, leise Stimme aus den Kissen. »Ab und zu eitert es - ich kenne das. Der lange Ritt… verzeiht mir, Bruder! Ich weiß, wie unangenehm der Gestank ist…«
»Ich muß Edmund holen«, erwiderte Cadfael, indem er die Zugschnur löste und das Hemd freilegte. Was darunter lag, deckte er noch nicht auf. »Der Bruder Krankenwärter muß Bescheid wissen.«
»Ja… aber kein anderer! Es ist nicht nötig, daß noch mehr
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