Ein Ganz Besonderer Fall
Frau, mager wie eine Mücke, aber unverwüstlich wie Flachs. Sie beäugte ihn leicht amüsiert und mitfühlend und fragte unverblümt: »Seid Ihr mit dieser Julian verwandt?«
»Nein«, erwiderte Nicholas knapp, »aber beinahe wäre ich es geworden, und ein sehr naher Verwandter sogar.«
»Und jetzt?«
»Ich will wissen, ob sie lebt, ob sie in Sicherheit und zufrieden ist. Weiter steckt nichts dahinter. Wenn sie gut aufgehoben ist, dann möge Gott sie beschützen, und ich will es zufrieden sein.«
»Ich an Eurer Stelle«, erklärte die Nonne, nachdem sie ihn noch einige Augenblicke schweigend gemustert hatte, »würde nach Romsey gehen. Der Ort ist weit genug entfernt, um sicher zu sein, und es ist das größte Benediktinerhaus in der ganzen Gegend. Gott weiß, welche unserer Schwestern Ihr dort findet, aber es werden gewiß einige dort sein, und vielleicht auch die Äbtissin.«
Trotz seiner weiten Reisen war er noch jung und unschuldig genug, um von jedem Beweis von Vertrauen und Güte stark bewegt zu werden. Zum Abschied küßte er ihre Hand, als sei sie in einem Festsaal seine Gastgeberin gewesen. Sie war ihrerseits zu alt und zu erfahren, um zu erröten oder sich zu sträuben, doch als er fort war, blieb sie eine lange Weile schweigend und lächelnd sitzen, bevor sie sich wieder zu ihren Schwestern gesellte. Er war ein sehr ansehnlicher junger Mann.
Nicholas ritt die etwa zwölf Meilen bis Romsey in düsterem Schweigen. Er war sich wohl bewußt, daß er sich einer Antwort näherte, die ihm womöglich überhaupt nicht gefallen würde.
Nachdem er Winchester verlassen und im Südwesten offenes Land erreicht hatte, drohte ihm keine Gefahr mehr, denn in dieser Gegend herrschte unumstritten die Königin. Es war ein schönes, sanft gewelltes Land und schon vor den Ausläufern des großen Waldes mit zahlreichen Bäumen bestanden. Er erreichte das Torhaus der Abtei im Herzen der kleinen Stadt erst spät am Abend und mußte am Tor läuten. Die Pförtnerin lugte durchs Gitter heraus und fragte nach seinem Begehr. Er beugte sich freundlich vor das Gitter und blickte in zwei klare, alte Augen in einem Kranz aus Falten.
»Schwester, habt Ihr hier einige Nonnen aus Wherwell aufgenommen? Ich wollte hören, wie es einer von ihnen geht, konnte sie aber dort nicht finden.«
Die Pförtnerin beäugte ihn mißtrauisch und sah ein junges, von der Reise schmutziges und müdes Gesicht. Ein einsamer junger Mann, der es ernst meinte und keine Bedrohung darstellte. Selbst hier in Romsey hatte man gelernt, das Tor nur mit Vorsicht zu öffnen, doch die Straße hinter ihm lag leer und still, und das Zwielicht über der kleinen Stadt schien friedlich.
»Die Priorin ist mit drei Schwestern gekommen«, erklärte sie, »aber ich glaube nicht, daß die drei Euch viel über die anderen sagen können. Doch kommt nur herein. Ich will fragen, ob die Priorin mit Euch sprechen will.«
Schloß und Kette wurden geöffnet, das Tor ging auf, und er trat in den Hof. »Wer weiß?« sagte die Pförtnerin freundlich, während sie hinter ihm das Tor wieder schloß. »Eine der drei mag die sein, die Ihr sucht. Ihr könnt es immerhin versuchen.«
Sie führte ihn durch trüb beleuchtete Flure in ein kleines, holzgetäfeltes Sprechzimmer, das von einer winzigen Lampe erhellt wurde, und ließ ihn dort allein. Das Abendmahl war schon lange vorbei, vielleicht sogar die Komplet, und die Schlafenszeit nahte. Sie würden ihn rasch zufriedenstellen wollen, soweit das überhaupt möglich war, um ihn vor Einbruch der Nacht wieder aus ihrer Enklave zu bekommen.
Er fand nicht die Ruhe, sich zu setzen, sondern wanderte im Zimmer herum wie ein eingesperrter Bär. Schließlich wurde eine zweite Tür geöffnet, und die Priorin von Wherwell trat leise ein. Sie war eine kleine, rundliche, rosige Frau, die ein bemerkenswert entschlossenes Gesicht und außerordentlich energisch blickende braune Augen hatte. Sie musterte ihren Besucher mit einem durchdringenden Blick von Kopf bis Fuß, während er seine Ehrenbezeugung machte.
»Man sagte mir, daß Ihr nach mir gefragt habt. Was kann ich für Euch tun?«
»Gnädige Frau«, erwiderte Nicholas, der bangend dem entgegensah, was kommen mochte, »ich war weit im Norden, in Shropshire, als ich vom Untergang Wherwells hörte. Im Kloster war eine Schwester, von deren Berufung ich gerade erst erfahren hatte, und nun will ich wissen, ob sie lebt und nach den Unruhen in Sicherheit ist. Vielleicht auch mit ihr sprechen, um mich selbst
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