Ein ganzes halbes Jahr
wenn ich eine Untertasse auf meinem Bein balanciere.
«Also … Will hat mir erzählt, dass er bei Ihnen zu Hause war.»
«Ja, ich hatte Geburtstag. Meine Eltern haben ein Geburtstagsessen für mich gemacht.»
«Wie war er?»
«Nett. Wirklich nett. Und zu meiner Mutter war er richtig süß.» Beim Gedanken daran musste ich unwillkürlich lächeln. «Wissen Sie, Mum ist ein bisschen traurig, weil meine Schwester und ihr Sohn ausgezogen sind. Mum vermisst sie. Ich glaube … er wollte sie einfach ein bisschen ablenken.»
Mrs. Traynor sah mich überrascht an. «Das war … sehr aufmerksam von ihm.»
«Das fand meine Mutter auch.»
Sie rührte in ihrer Kaffeetasse herum. «Ich weiß überhaupt nicht mehr, wann sich Will das letzte Mal bereit erklärt hat, mit uns zu Abend zu essen.»
Sie bohrte noch ein bisschen mehr nach. Natürlich stellte sie keine zu direkten Fragen, das war einfach nicht ihr Stil. Aber ich konnte ihr trotzdem nicht sagen, was sie hören wollte. An manchen Tagen wirkte Will zufriedener – dann ging er mit mir aus dem Haus, ohne Theater zu machen, neckte mich, piesackte mich, wirkte ein bisschen interessierter an der Welt jenseits des Anbaus – aber was wusste ich schon wirklich? Bei Will spürte ich eine riesige, unbekannte Seelenlandschaft, einen Bezirk, zu dem er mir keinen Zutritt gestattete. Und in den vergangenen Wochen hatte ich das unbehagliche Gefühl gehabt, dass diese hermetisch abgeriegelte Seelenlandschaft immer größer wurde.
«Er wirkt etwas glücklicher», sagte sie. Es klang, als wollte sie sich damit selbst beruhigen.
«Das finde ich auch.»
«Es war sehr …», ihr Blick wanderte kurz zu mir, «… wohltuend, manchmal wieder sein altes Selbst aufblitzen zu sehen. Mir ist vollkommen bewusst, dass all diese Fortschritte Ihnen zu verdanken sind.»
«Nicht alle.»
«Ich bin nicht mehr zu ihm durchgedrungen. Ich konnte ihn nicht mehr erreichen.» Sie stellte ihre Tasse mit der Untertasse auf ihr Knie. «Will ist ein außergewöhnlicher Mensch. Seitdem er erwachsen ist, hatte ich immer das Gefühl, in seinen Augen etwas falsch gemacht zu haben. Ich war nie sicher, was es war.» Sie versuchte zu lachen, aber es missglückte ihr. Dann sah sie mich kurz an und wandte gleich darauf den Blick wieder ab.
Ich tat so, als würde ich einen Schluck Kaffee trinken, obwohl meine Tasse leer war.
«Verstehen Sie sich gut mit Ihrer Mutter, Louisa?»
«Ja», sagte ich und fügte hinzu, «es ist meine Schwester, die mich in den Wahnsinn treibt.»
Mrs. Traynor schaute aus dem Fenster auf ihren kostbaren Garten, in dem in einer zarten, geschmackvollen Mischung aus Rosa, Mauve und Blau die Blütezeit eingesetzt hatte.
«Wir haben nur noch zweieinhalb Monate», sagte sie, ohne den Kopf zu wenden.
Ich stellte meine Kaffeetasse auf den Tisch. Ganz vorsichtig, damit das Porzellan nicht klirrte. «Ich tue mein Bestes, Mrs. Traynor.»
«Ich weiß, Louisa.» Sie nickte.
Als ich ging, stand sie nicht auf.
Leo McInerney starb am 22. Mai in einem anonymen Zimmer einer Schweizer Wohnung. Er trug sein liebstes Fußballtrikot, und seine Eltern saßen bei ihm. Sein jüngerer Bruder hatte sich geweigert zu kommen, sagte aber in einer Stellungnahme, kein Mensch könne mehr geliebt worden sein und mehr Unterstützung gehabt haben als sein Bruder. Leo trank die milchige Lösung mit tödlichen Barbituraten um 15:47 Uhr, und seine Eltern sagten, er sei innerhalb von Minuten in eine Art Tiefschlaf gefallen. Um kurz nach vier Uhr wurde er von einem Zeugen, der den gesamten Prozess überwacht hatte, für tot erklärt. Zudem war alles auf Video aufgezeichnet worden, um jedem Verdacht auf ein Verbrechen vorzubeugen.
«Er sah so friedlich aus», wurde seine Mutter zitiert. «Das ist das Einzige, mit dem ich mich trösten kann.»
Sie und Leos Vater waren dreimal von der Polizei vernommen worden und hatten kurz vor einer Anklage gestanden. Hassbriefe landeten in ihrem Briefkasten. Leos Mutter sah mindestens zwanzig Jahre älter aus, als sie tatsächlich war. Und doch sprach aus ihrer Miene noch etwas anderes; etwas, das außer der Trauer und der Wut und der Angst und der Erschöpfung eine tiefe, tiefe Erleichterung ausdrückte.
«Endlich hat er wieder wie Leo ausgesehen.»
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Kapitel 15
A lso, Clark, welche aufregenden Pläne haben Sie für heute Abend?»
Wir waren im Garten. Nathan machte mit Will Physiotherapie. Er bewegte seine Knie sanft in Richtung Brust und wieder
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